“Die Industrie erlebt eine Komplexitäts-Explosion”
Application Performance Management hat sich laut Gartner in den vergangenen Monaten zu einem der wichtigsten Themen der IT-Abteilungen entwickelt. Grund: ‘Bring Your Own Device’ und die zunehmende App-Flut sorgen in vielen Unternehmen für interne Support-Probleme. Alois Reitbauer, Technology Strategist bei Compuware, beschreibt im Interview mit silicon.de wie CIOs im “Internet am Rande des Wahnsinns” den Überblick behalten können.
silicon.de: Application Performance Management (APM) stammt aus einer Zeit, in der das Modewort “App” noch nicht erfunden war. Welche Rolle kann APM in der schnelllebigen App-Welt spielen?
Alois Reitbauer: Der Begriff Application Performance Management (APM) mag vielleicht etwas sperrig klingen, aber für IT-Entscheider ist das Thema erfolgskritisch.
Fast jeder unserer Kunden besitzt eine Mobile-Initiative. Meist als Randprojekt gestartet, rückt die mobile Strategie immer weiter in den Mittelpunkt. Apps werden im Alltag von Verbrauchern und wichtigen Geschäftskunden gleichermaßen genutzt. Dabei sind App-Anwender schnell unzufrieden, etwa wenn sie 30 Sekunden brauchen, um etwas zu erledigen oder die Seite während einer Transaktion hängen bleibt. Bereits ein bis zwei Sekunden längere Ladezeiten führen zu merklichen Umsatzrückgängen. Daher stellt jede wahrgenommene Unterbrechung des Anwenders einen erheblichen Schaden für das Business dar.
Wir sehen auf der einen Seite einen starken Zuwachs an Nutzern von mobilen Anwendungen, auf der anderen Seite, dass die Apps immer geschäftskritischer werden. Hinzu kommen, dass sich die Komplexität der IT stark erhöht und der Einblick in die Prozesse verschlechtert hat. Genau deswegen gibt es einen dringenden Bedarf, die Systeme sehr genau im Auge zu behalten. So kann beispielsweise der Wechsel von IPv4 (Internet Protocol Version 4) auf IPv6 die Anwendungsperformance und die Nutzererfahrung deutlich beeinträchtigen.
silicon.de: Im Englischen gibt es den Begriff “Edge of the Internet” – was genau verbirgt sich dahinter?
Alois Reitbauer: Jedes Unternehmen beschäftigt sich mit modernen Applikationen, die dynamisch, am “Rande des Internets” – sei es im Browser des Anwenders oder im Rahmen mobiler Anwendungen – hinzugefügt werden. Durch die ungeheure Vielzahl von Browsern und mobilen Endgeräten ergibt sich eine gewaltige Komplexität, die den APM-Bedarf stark vorantreibt.
Der Trend BYOD (Bring Your Own Device) wurde durch die Beliebtheit von iOS und Android Smartphones in Gang gesetzt. Aber die Freiheit, die Mitarbeitern dadurch gewährt wird, besitzt ihren Preis. Firmen haben damit die Büchse der Pandora hinsichtlich einer Vielzahl möglicher technischer Probleme geöffnet. Entsprechend haben die CIOs von IBM vor kurzem die Beschränkungen für bestimmte Software-Apps verschärft. Eine Cisco-Studie hat zudem bewiesen, dass BYOD bei vielen Firmen interne Support-Probleme erzeugt.
Auch viele unserer Kunden haben sich zur Belastung durch BYOD geäußert. Der Trend bietet hohe Flexibilität, erzeugt aber gleichzeitig eine hohe Komplexität. Unternehmen müssen jetzt für eine Vielzahl an Endgeräten und Applikationen Optimierungsprozesse durchführen.
silicon.de: Wie kann APM CIOs dabei helfen im “Internet am Rande des Wahnsinns” nicht den Verstand zu verlieren?
Alois Reitbauer: Internet-Nutzer erwarten, Google sei Dank, eine schnellere Anwendungsperformance als jemals zuvor, während Firmen sich im dauernden Kampf mit den ständig wachsenden und komplexer werdenden Infrastrukturen befinden. Laut einer internationalen Studie des Forschungs- und Marktanalyseunternehmens Quocira ist 2012 das Jahr von APM. Die Studie zeigt, dass eine zwei Sekunden längere Ladezeit zu einem geschätzten Umsatzverlust von vier Prozent pro Besucher auf einer E-Commerce-Website führt.
Wir bei Compuware haben für 2012 vier Schlüssel-Trends identifiziert:
* Die IT muss mehr mit weniger erreichen
* Nutzer-Erwartungen steigen
* Die Industrie erlebt eine Komplexitäts-Explosion
* Geschäftsanforderungen erhöhen sich
IT-Abteilungen verbringen oft mehr Zeit damit, Ursachen von Anwendungsproblemen zu suchen, als diese zu beseitigen. 63 Prozent der Unternehmen verbringen mehr als ein Fünftel ihrer Zeit mit der Behebung von Performance-Problemen. Unsere Forschung zeigt, dass nur 40 Prozent der Probleme in der Testphase entdeckt worden sind – und weitere 40 Prozent überhaupt erst im Produktionsbetrieb.
38 Prozent der Konsumenten verlassen spätestens nach 12 Sekunden Antwortzeit die Plattform. Die Quocirca-Studie schließt daraus, dass APM-Systeme einen Schritt weiter gehen müssen als heute, indem sie über den gesamten Lebenszyklus der Anwendungen hinweg einen Mehrwert bieten müssen. Denn letztendlich ist es die Zufriedenheit der Nutzer die zählt und über den Unternehmenserfolg entscheidet.
silicon.de: Was genau muss APM in Zeiten von mobile Apps, Web-Apps, Cloud und BYOD leisten?
Alois Reitbauer: Durch die Vielzahl an Endgeräten, Betriebssystemen, Applikationen und Browsertypen sowie die vergleichsweise häufigen Unterbrechungen in mobilen Netzen kann bei der Performance von Anwendungen vieles falsch laufen. Leider sind Nutzer des mobilen Internets ebenso nachtragend wie jene von Laptops oder Desktops. Daher stellt sich die Frage: Wie kann die IT-Branche die Geschwindigkeit und Verfügbarkeit von Anwendungen gewährleisten, die für den Geschäftserfolg in vielerlei Hinsicht notwendig sind? Das ist keine einfache Aufgabe.
Ein Beispiel: Nachdem sich einer unserer Kunden aus der Versicherungsbranche für BYOD entschieden hatte, beschwerte sich dessen Vertriebsmitarbeiter über eine Verschlechterung der mobilen Anwendungsperformance. Geschäftskritische Daten, die zuvor sehr schnell über unternehmenseigene mobile Geräte abgerufen werden konnten, waren nicht mehr in der benötigten Geschwindigkeit verfügbar. Dies zeigt, dass BYOD einen starken Einfluss auf die tägliche Arbeitswelt hat. Es kann sich zum einen negativ auf die Mitarbeiterproduktivität auswirken, zum anderen steigen die Support-Kosten.
BYOD erschwert zudem die Performance-Beobachtung und -Verwaltung, da viel mehr Geräte und Anwendungen zu berücksichtigen sind. Damit wird die Überwachung der Performance zu einem der wichtigsten Anliegen für Unternehmen. In den kommenden Monaten können wir sicherlich mit mehr Erfahrungen zu den steigenden Herausforderungen durch diesen Trend rechnen und werden sehen, dass immer mehr Unternehmen diesem Konzept Grenzen setzen.
silicon.de: Eine Applikation mit einer schlechten Performance war auch vor zehn Jahren ein Ärgernis – ist das Problem also am Ende gar nicht größer sondern nur anders?
Alois Reitbauer: Es gibt zwei Hauptgründe dafür, dass das Problem tatsächlich größer wird: Erstens werden fast alle Nutzer immer ungeduldiger. Zweitens wird das Application Performance Management durch das Angebot hochkomplexer, moderner Anwendungen erschwert. Bis ein Verbraucher eine Anwendung, die sich in einem Rechenzentrum befindet, nutzen kann, muss diese eine komplexe Lieferkette durchlaufen. Viele Unternehmen kämpfen mit dieser neuen Komplexität, vor allem dann, wenn Sie Apps mit höherer Funktionalität und Geschwindigkeit liefern müssen.
silicon.de: Werden wir in Zukunft nur noch webbasierte Apps sehen – während mobile Apps verschwinden?
Alois Reitbauer: Mobile native Anwendungen machen nach wie vor Sinn. Hier zeigt das Beispiel von LinkedIn, dass es teilweise noch schwierig ist, reine HTML5 basierte mobile Apps zu entwickeln. Dies wird sich aber mit neueren Browsern sicher ändern. Die Entwicklung von plattformübergreifenden Anwendungen ist aber natürlich bei weitem kostengünstiger. Ansätze in denen HTML5 Anwendungen in native Frames “gequetscht” werden, werden sicher noch lange bestehen. Nicht zuletzt aufgrund der einfachen Distribution – sowohl im Enterprise-Umfeld als auch in App Stores.
silicon.de: Wie schaut eine “gute APM-Strategie” aus und was kostet sie?
Alois Reitbauer: Die Sicht der Anwender muss an erster Stelle stehen. Wir sprechen uns darüber hinaus für ein Konzept aus, das Performance Management möglichst früh und über den gesamten Lebenszyklus einer Anwendung hinweg integriert.
Nur wer eine End-to-End Sicht vom Datencenter bis hin zum Browser des Anwenders hat, weiß über die Zufriedenheit der Nutzer Bescheid. Die Geschäftsführer sollten sich dabei auf die wichtigsten Unternehmens-Applikationen konzentrieren. Wenn Unternehmen über das Befinden ihrer Nutzer Bescheid wissen, können sie beginnen geschäftskritische Transaktionen zu optimieren. Dabei sollte eine schnelle und punktgenaue Fehleridentifizierung helfen, Schwachstellen in der Lieferkette ausfindig zu machen und diese zu beseitigen.
Unternehmen sollten daher unbedingt den Anwender in den Mittelpunkt stellen. Führungskräfte und IT-Fachkräfte müssen Performance-Probleme beseitigen, bevor diese von den Nutzern bemerkt und den Umsatz negativ beeinflussen. Dies kann ein Unternehmen zwischen mehreren zehntausend bis zu mehreren Millionen Euro pro Jahr kosten.
Die Überprüfung der Anwendungsperformance sollte unbedingt den Standpunkt des Endanwenders mit berücksichtigen. Das gilt natürlich auch für mobile Anwendungen, die immer geschäftskritischer werden.
Ein Monitoring im Data Center allein genügt nicht, um die Kunden- und Mitarbeitersicht zu messen. Um Flaschenhälse beim Application Performance Management (APM) schnell und eindeutig zu erkennen, muss die gesamte Lieferkette überwacht werden.
Tipp: Wie gut kennen Sie Apple? Überprüfen Sie Ihr Wissen – mit 15 Fragen auf silicon.de.