Warum die “perfekte Lieferkette” so schwer umzusetzen ist
Deutsche Unternehmen sind derzeit vor allem darauf bedacht, die einzelnen Stationen der Lieferkette möglichst genau im Blick zu behalten, sagt Jürgen Tekautschitz, Senior Account Executive für den Bereich Commerce Solutions bei IBM Deutschland, im Gespräch mit silicon.de. Vorausschauendes Risikomanagement fehle dagegen noch häufig.
silicon.de: Egal ob Sommerschlussverkauf, einmalige Sonderaktionen oder der Verkaufsstart eines neuen Produkts – oft sind Schnäppchen bereits kurz nach der Ladenöffnung ausverkauft. Ladenbesitzer begründen das gerne mit einer “unerwartet hohen Nachfrage” – gilt diese Ausrede noch in Zeiten IT-gesteuerter Lieferketten?
Jürgen Tekautschitz: In der Tat zählt dieses Argument heute eigentlich nicht mehr. Denn Unternehmen können die verschiedenen Einflussgrößen heute bereits ganz anders prognostizieren und berücksichtigen als vor einigen Jahren. Zu diesen Einflussgrößen gehören zum einen externe Faktoren – wie zum Beispiel die Wetterlage in der aktuellen Saison, die den Absatz beeinflusst. Zum anderen können Unternehmen den Markt und das Verhalten ihrer Kunden beobachten und analysieren. Wenn sich die Einflussgrößen verändern, muss das in die Absatzplanung mit einfließen.
Mit entsprechenden Lösungen lässt sich die Absatzplanung dann so optimieren, dass Engpässe kaum mehr vorkommen. Unternehmen können mit solchen Lösungen einerseits die Nachfrage besser prognostizieren und andererseits auch die Lieferfähigkeit sicherstellen. Hier ist die Betrachtung der gesamten Supply Chain wichtig: So sollten zum Beispiel Marketingkampagnen so geplant werden, dass sie auch die Wiederbeschaffungs- und Produktionszeiten für die beworbenen Produkte berücksichtigen.
silicon.de: Auch Google wurde kürzlich offenbar vom Erfolg des eigenen Tablets überrascht. Hier geht pro Tag viel Geld verloren – um wie viel Prozent könnte ein solcher Schaden durch eine “perfekte Lieferkette” abgemildert werden?
Jürgen Tekautschitz: Das lässt sich so generell kaum quantifizieren, weil es in verschiedenen Unternehmen an ganz unterschiedlichen Stellen in der Lieferkette hakt. IBM führt deshalb bei den Kunden zunächst einmal eine Soll-/Ist-Analyse durch, die aufzeigt, welche Bereiche optimiert werden müssen und welcher ROI sich dadurch erzielen lässt.
Wir haben beispielsweise einen Einzelhändler als Kunden, der durch eine Bestandsoptimierung 1,5 Millionen Euro Kosten pro Jahr eingespart hat. Ein anderes Unternehmen konnte durch ein besseres Komponenten-Management die Durchlaufzeiten in der Produktion um 50 Prozent reduzieren.
silicon.de: Beispiel Tablet-Markt – bis wohin muss ich als Hardware-Hersteller meine Lieferkette steuern können (z.B.: Montage des Tablets, Herstellung der Hardware-Komponenten)?
Jürgen Tekautschitz: Die Extended Supply Chain im Griff zu haben bedeutet vor allem, die Risiken in der gesamten Lieferkette im Blick zu behalten und abzumildern. Ein Tablet-Hersteller wird beispielsweise nicht in die Produktionsplanung seiner Zulieferer eingreifen und diese direkt steuern. Statt dessen sollte er definieren, welche Teile und Komponenten besonders kritisch für die eigene Produktion sind.
Risiken für die produktionswichtigen Teile entstehen beispielsweise durch die Entwicklung der Rohstoffpreise, durch die Abhängigkeit von einem einzelnen Zulieferer oder durch Risiken bei den Transportwegen. Ein professionelles Risk Management bewertet diese Risiken und schafft für bestimmte Risiken Abhilfe. So kann beispielsweise ein zweiter, alternativer Zulieferer für wichtige Bauteile frühzeitig ausgewählt werden, damit bei einem Ausfall des Hauptlieferanten kein Engpass entsteht.
silicon.de: Ein Konzern wie Apple ist bei dem Thema vermutlich schon ziemlich weit – wie schaut es in “durchschnittlichen” mittelständischen Unternehmen in Deutschland aus?
Jürgen Tekautschitz: Für den Mittelstand in Deutschland ist derzeit vor allem die Zusammenarbeit mit Produktionspartnern im asiatischen Raum ein wichtiges Thema, bestimmt von der Frage wie sich solch eine Zusammenarbeit realisieren lässt, ohne an Qualität zu verlieren. Die Unternehmen legen die Priorität deshalb noch weitgehend auf die reine Supply Chain Visibility – was passiert in der Lieferkette und wie lässt sich darauf angemessen reagieren? Vorausschauendes Risikomanagement und die bis zu den Lieferanten durchgetaktete Extended Supply Chain wären dagegen nächste Schritte. Hier gibt es noch viel Potenzial, gerade für mittelständische Unternehmen.
silicon.de: Was treibt Firmen stärker dazu an, ihre Lieferkette zu verbessern – der Konkurrenzdruck am Markt oder anspruchsvollere Kunden?
Jürgen Tekautschitz: Die beiden Komponenten spielen natürlich immer zusammen. Generell lässt sich jedoch sagen, dass der Kunde als Ausgangsbasis und zentraler Punkt der Entwicklung an Bedeutung zunimmt. Wo vor einigen Jahren noch die Kosten und die Produktion im Mittelpunkt standen, geht es heute häufiger um die Erwartungshaltung der Kunden. Das zeigt auch eine Studie, für die IBM weltweit Supply Chain Officers befragt hat: Die drei wichtigsten Themen für die Befragten waren Transparenz, Risiken und die Kenntnis der Kundenerwartungen.
silicon.de: Was ist aktuell der größte Hemmschuh auf dem Weg zur “perfekten Lieferkette”?
Jürgen Tekautschitz: Als Hindernis entpuppt sich vor allem die Heterogenität der Unternehmen: Verschiedene Systeme, Anwendungen und Prozesse so aufeinander abzustimmen, dass eine engere Zusammenarbeit mit Partnern in der Lieferkette möglich wird, ist häufig eine echte Aufgabe. Unternehmen, die diesen Schritt gehen wollen, sollten deshalb frühzeitig mit der Planung beginnen und vor allem ihre Anforderungen möglichst genau definieren. Das gibt Ihnen im besten Fall auch die Chance innerhalb ihrer Partner-Community eine Führungsrolle zu übernehmen und die Standards für die Zusammenarbeit mitzubestimmen.
silicon.de: Haben Sie ein konkretes Beispiel, wie lange eine Firma heute braucht, um auf veränderte Kundenanfragen zu reagieren – im Vergleich zu vor 10 oder 20 Jahren?
Jürgen Tekautschitz: Das lässt sich kaum mehr vergleichen – vor 10 oder 20 Jahren konnten Unternehmen praktisch gar nicht auf solche Veränderungen reagieren, weil Prozesse manuell angestoßen werden mussten und die Informationen über Aufträge, Produktionsstatus und anderes nicht vorlagen oder mühsam von Hand nachgeschlagen werden mussten. Heute dagegen laufen solche Prozesse praktisch in Echtzeit ab – wenn die Supply Chain entsprechend aufgesetzt ist.