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Müll und Horror

Schicke Accessoires für die Modebewussten des 21. Jahrhunderts. Ein Hauch von Mailand wehte durch die muffigen Hallen in der norddeutschen Provinz. Man trägt High Tech.

Leute wie unsereins, die sich alle drei Jahre unwillig einen neuen grauen Anzug aus dem Kaufhaus holen, fühlten sich da fast schon ein bisschen heimatvertrieben. Dabei war die CeBIT doch einmal unsere Messe: zwei Dutzend Hallen voller Equipment in uniformen Kisten – das Jahrestreffen der White-Paper- und Datenblatt-Freunde.

Was einen dann aber doch wieder etwas versöhnt mit der Präsentation der neusten Gadget-Kollektionen ist das, was drinsteckt – unter dem Designer-Plastik. Im Wesentlichen ist das Speicher. Solide Massenspeicher in Form von Hard-Disks und Flash-Chips. Ein Gigabyte ist’s beim Aquamarin-Player. Vier sind’s beim iPod und gleich zehn beim Festplatten-Handy. Da passt was drauf.

Das ist schon toll. Speicher sind halt klasse. Die regen die Phantasie von Leuten an, die mehr davon haben als Modemacher. Jene von Technikern. So wie die von Gordon Bell.

Der hat seinerzeit für Digital Equipment die VAX entwickelt. Die gibt’s längst nicht mehr – beide, sowohl den Rechner, als auch DEC. Die sind Geschichte. Und diese hat Gordon Bell mitgeschrieben.

71 ist er mittlerweile. Er hat entsprechend viel erlebt. Und seit ein paar Jahren denkt er darüber nach, wie es denn wäre, wenn man so ein Leben wie das seine digital abbilden würde. Notizen, Telefongespräche, Filme, die man sich angeschaut hat – alles könnte doch auf Harddisks abgespeichert werden. MyLifeBits nennt Gordon Bell sein Projekt. Die Speichertechnik macht’s möglich.

Wenn sowas schon früher gegangen wäre, dann könnte man sich jetzt quasi die alten Folgen der spannendsten Fortsetzungsgeschichte überhaupt noch einmal anschauen, Episoden aus dem eigene Leben. Es sind schon phantastische Ideen, auf die große Techniker so kommen!

Wobei: unbewusst und nicht sehr systematisch arbeitet man selbst ja auch an so einem Projekt – für sich ganz persönlich. Viele Dateien sind nur deshalb auf die Disks vom Rechner daheim gekommen.

Das File Samba_pati.mp3 beispielsweise. Das ist das Santana-Stück, wonach die unerreichbare Traumfrau zwei Klassen höher bei Schulfeten immer so wunderbar tanzte – mit diesem widerwärtigen Typen, der sein Abitur schon längst gemacht hatte und immer bloß zu den Partys kam.

Ach ja. 4,15 Megabyte reichen aus, um solch tragische Szenen wieder lebendig werden zu lassen. Was das Mädel jetzt wohl macht? – Wahrscheinlich ihre Enkel hüten.

Damals allerdings war sie der Auslöser des größten Weltschmerzes, der jemals einen Heranwachsenden ergriffen hat. Es war allerdings auch ein schöner Schmerz, vor allem, wenn man ihn sich zusammen mit einer blauen Gaulloise ohne Filter reingezogen hat – sowas rauchen alle einsamsten Männer – und zusammen mit dem entsprechenden Stones-Titel, versteht sich, inzwischen abgespeichert als sitting_on_a_fence.mp3 (4,3 MB).

Die Jugendzeit halt. Und später nach dem Studium ist man dann irgendwann bei der IT gelandet und hat sich tagelang durch dieses White-Paper über cc-NUMA (Cache Coherent Non Uniform Memory Access) gekämpft. Heute ist diese Technik kein Thema mehr. Aber man hat seinerzeit doch viel über große Rechner gelernt. Und das Gelernte kann man sich wieder vergegenwärtigen, wenn man das Word-Dokument (1,2 MB) von Data General anklickt. Ansonsten ist von DG ja nicht mehr viel übriggeblieben.

Und noch viel abenteuerlichere Exkursionen in die Vergangenheit kann man unternehmen: eine Reise zurück in die Kindheit. Das weite Land, das ein freiheitsliebender Mann in den besten Jahren braucht – also Mitte des ersten Lebensjahrzehnts – das hatte damals einen Namen. Es hieß Ponderosa.

Bonanza-Schauen allerdings ging nur bei Oma. Besorgte Eltern machen ambitionierten Cowboys nun mal mehr Ärger als die Apachen. Deshalb nehmen die paar Folgen, die man damals in den Schulferien gesehen und inzwischen im avi-Format abgespeichert hat, auch gerade mal 830 Megabyte ein. Aber Erinnerungen werden dabei wach!

Schade, dass man nicht mehr aus seiner Vergangenheit hat konservieren können. Obwohl ja für viele Gordon Bells MyLifeBits eine Horrorvorstellung sind. Aber das ist Unsinn. Der Horror, den man erlebt hat, der ist eh schon persistent abgespeichert – im Kopf. Die Schreiben an den angehenden Berufsanfänger etwa: “Vielen Dank… bedauern, Ihnen mitteilen zu müssen…”. Sowas würde man gerne löschen. Auf Platte geht das, im Gehirn nicht.

Ein segensreiches Feature wiederum hat das Gedächtnis, das der Festplatte fehlt: Das Gehirn vergisst ganz automatisch, was nicht wert ist, behalten zu werden. Mails etwa mit der Betreffzeile “It’s CeBIT-Time” oder “… lädt zur CeBIT ein”. Es ist erstaunlich, wie viel manche Leute schreiben können, obwohl sie nichts zu sagen haben.

Die Harddisk merkt nicht, dass sie sich mit sowas nicht zu belasten braucht. Die größten Dateien sind deshalb auch die Outlook-Archive. Übers Jahr kommt da leicht ein halbes Gigabyte zusammen.

Ein PR-Unternehmen hat sogar gleich am ersten Messetag stolz verbreitet, dass es jetzt schon 1000 Pressemitteilungen zur CeBIT abgesetzt hätte. Auch eine Meldung!

Aber sowas wiederum ist sehr wohl wert, archiviert zu werden. Denn ein Dokument ist es allemal. Es dokumentiert das größte Problem für das Projekt eines digitalen Langzeitgedächtnisses. Und das ist nicht der Horror, sondern der Müll.

Silicon-Redaktion

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