Virtuelle Wiesn
Ja, diese Virtualität. Darüber sinniert man gern, wenn man Nachmittags, bevor’s gar so voll wird, bei einer Mass auf der Wiesn sitzt.
Ja, diese Virtualität. Darüber sinniert man gern, wenn man Nachmittags, bevor’s gar so voll wird, bei einer Mass auf der Wiesn sitzt. Die Wiesn – norddeutsch: Oktoberfest, englisch: Bavarian Beer Festival – ist dafür grad der rechte Ort.
Hier ist nämlich schon IT-Geschichte geschrieben worden. Im letzten Jahrhundert war’s. Damals hat ein Souvenir-Tandler schauen wollen, ob denn mit einem “virtuellen Oktoberfest” was geht. So hat er’s genannt. Gewissermaßen die erste Großveranstaltung in digitaler Form: ein paar Bilder und avi-Files auf einer CD.
Und damit hat er dann auch gleich die Grenzen der Virtualität kennen gelernt. Die endet nämlich spätestens da, wo die Wiesn anfängt. Dieses “virtuelle Oktoberfest” hat sich nicht halten können.
Weil es sowas halt nicht braucht. Wenn’s so schön ist, wie auf der Wiesn, dann möcht’ man das nicht in Virtuell, sondern wirklich.
Anderes aber hat man lieber bloß virtuell, Autorennen zum Beispiel. Gerade während der zwei Wochen vorm ersten Oktoberwochenende. An den PC setzen kann man sich nämlich auch, wenn man zuvor auf der Wiesn gewesen ist.
Es ist schon schön, wenn die Rennwagen so über den Bildschirm flitzen. “Sauber!” sagt man dazu in Bayern.
Im Nicht-Virtuellen tät’ man das nicht immer behaupten wollen. Da hat ja auch dieser Schumacher mitgemischt.
Nein, nicht der Formel-1-Pilot und erfolgreiche Geschäftsmann mit Vornamen Michael ist gemeint. Der hat mit seiner Rennfahrerei 650 Millionen gemacht, niemand sonderlich damit geschadet und hört jetzt auf. Das passt schon.
Der andere. Der, der Ulrich heißt, früher mal Infineon-Chef war und turnusmäßig die leistungsschwächsten 5 Prozent der Belegschaft feuern hat wollen. Als der aufgehört hat, war sein Unternehmen gerade mal noch ein Drittel so viel Wert wie beim Börsengang.
Und beim Autorennen war er eigentlich auch eher ein Underperformer. Beim Porsche Supercup ist er mitgefahren. Wie man diese Woche in München beim Prozess gegen seinen Ex-Spezl Udo Schneider erfahren hat, wird dieses Rennen gern “Mäuseliga” genannt.
Scheider ist wegen Bestechung zu vier Jahren Haft verurteilt worden. Dem Schumacher will er auch Geld gegeben haben, nachdem der einen Rennwagen zu Schrott gefahren hat.
So einem möcht’ man doch nicht auf der Straße begegnen – und eigentlich auch sonst nirgendwo. Und eben davor ist man beim virtuellen Autorennen gefeit.
Ganz eigene virtuelle Welten generiert auch immer wieder die Politik. Da werden jetzt Bündnisse geschmiedet – rein virtuell, versteht sich. Zum Beispiel die Spanien-Koalition von Mecklenburg-Vorpommern – rot – gelb – rot.
Das wär’ dann das Bündnis zweier in letzter Zeit arg gefledderter Volksparteien (30 und 18 Prozent) mit einer radikalen Splittergruppe. Ja, in der Virtualität geht’s phantasievoll zu.
Und im bundespolitischen Cyberspace wollen einige eine Ampel aufstellen. Die Grünen seien “nicht koalitionsfähig” hat dazu der Westerwelle gesagt. Und von denen die Roth, die FDP sei “nicht regierungsfähig”.
Beides stimmt. Beruhigen kann es einen trotzdem nicht. Weil: Das ist ja gerade der Unterschied zwischen der politischen Virtualität und der gewöhnlichen. Die gewöhnliche kommt zustande, weil man etwas nicht wirklich machen kann. Deswegen rechnet man’s halt. Die politische hingegen besteht darin, dass wenn sich was rechnet, man’s irgendwann auch wirklich macht.
Aber es ist ja eh schon wurscht, wer regiert. Die wollen ja alle dasselbe: dass die Leut’ net so viel zahlen müssen halt. Deswegen hat auch die vorherige Regierung die Steuern um 60 Milliarden pro Jahr gesenkt, “um Bürger und Unternehmen zu entlasten”. Vor allem natürlich die Unternehmen.
Die jetzige Regierung allerdings hat gemerkt, dass sie das Geld braucht: “Koalition halbiert rot-grüne Steuergeschenke” hat am Dienstag denn auch die Süddeutsche ihren Wirtschaftsteil aufgemacht.
Das wär’ dann allerdings immerhin noch die Hälfte, die einem blieb. – Aber leider halt nur gerechnet, quasi virtuell: Rot-Grün hat die Unternehmen entlastet. Und Schwarz-Rot belastet unsereins. Die Mehrwertsteuer macht zwei Drittel der Abgabenerhöhung aus.
Ach ja, man möcht’, wenn man so sinniert, sich eigentlich gleich noch eine Mass kaufen. Aber dann hätt’ man morgen wieder Föhn – norddeutsch: böiger Fallwind, englisch: foehn – inwendig im Kopf. Bei einer virtuellen Wiesn gäb’s das nicht. Das wär’ aber auch der einzige Vorteil.