Der soziale Layer 1
Wie wunderbar ist doch die Welt der modernen Datenkommunikation. Ein jedes Bit lässt sich da ganz klar einordnen. Wo, das legt das herrliche, ordnungsstiftende ISO/OSI-Referenzmodell fest.
Niemand käme auf die Idee, darüber laut und aufgeregt zu streiten. Was im Wesentlichen zwei Gründe hat: Um in Netzwerkdingen mitreden zu können, muss man über ein profundes Wissen verfügen, was per se jedwedes Geschrei verhindert. Vor allem aber: Kaum einer interessiert sich dafür, was unten – unterhalb des Layer 7, also der Anwendungsebene – wirklich geschieht.
Und das braucht eigentlich auch keiner. Transparenz nennt sich dieses Prinzip in der IT: Die unteren Schichten sind nur aus der Sicht der oberen relevant.
Genauso verhält es sich in den Gesellschaftswissenschaften. Der liberale Soziologe Max Weber (1864 – 1920) etwa bezeichnete die Arbeiterschaft noch als Klasse. Was sich allerdings für die “Klassen der Besitzenden und durch Bildung Privilegierten” (M. Weber) als gefährlich herausstellte, weil die Arbeiterschaft diesen Terminus als Kampfbegriff verwendet hat.
Also hat man jene eine Zeit lang in Verkehrung der realen Verhältnisse Arbeitnehmer geheißen. Aber die Gewerkschaften haben auch dieses schräge Wort schnell usurpiert.
Deshalb ist heute die reine Chefperspektive üblich geworden. Und jeder spricht von Mitarbeitern. Für die auf den unteren gesellschaftlichen Layern ist halt immer die soziale Draufsicht namensgebend.
So hat es auch die Friedrich-Ebert-Stiftung gehalten und quasi ein soziologisches Referenzmodell der bundesrepublikanischen Gesellschaft entworfen, um zu erklären, warum auf jeder Ebene kaum noch jemand SPD wählt. “Abgehängtes Prekariat” heißt bei ihr die immer größer werdende Schicht ganz unten. Sehr weit weg von jedwedem physical Layer waren die Herren Soziologen, als sie sich diesen Namen ausgedacht haben.
Dem Vorsitzenden der sozialdemokratischen Partei erschien das wohl zu kompliziert. Und deswegen hat Kurt Beck “Unterschicht” gesagt. Ob das die rechte Sicht ist, darüber ist jetzt ein lauter Streit ausgebrochen.
Als “Stigmatisierung” empfindet es Christoph Matschie. Noch vor kurzem hat man die ganz unten gerne als “bildungsferne Schichten” bezeichnet, das beeinträchtigte die Befindlichkeit des obersten thüringischen Sozialdemokraten nicht so sehr.
Von einem, der ungebildet ist, kann man ja auch leicht sagen, er sei selbst schuld. Von einem, der in Not geraten ist, nicht so umstandslos.
Volker Kauder spricht denn auch lieber von “Menschen, die Integrationsprobleme in unserer Gesellschaft haben”. Das legt schon sprachlich das “Selber-schuld-Paradigma” nahe. Und es erscheint nett vom Vorsitzenden der Unionsbundestagsfraktion, dass er diesen Leuten bei ihren persönlichen Problemen helfen will, beispielsweise indem er sie im ZDF-Interview bedauert.
Und als echter Freund der Underdogs empfiehlt sich Guido Westerwelle. “Freunde in der Not, gehen hundert auf ein Lot”, weiß der Volksmund. Und: “Armut hat einen Grund: Schlechte Politik!” befindet der FDP-Vorsitzende in seinem Bildzeitungs-Blog. Hoffentlich verfügt man auf dem untersten Layer über so viel Fremdsprachenwissen, um die alte englische Redensart zu kennen: “With friends like these vou don’t need enemies.”
Mit einem Denial-of-Service reagiert Franz Müntefering: “Es gibt keine Schichten in Deutschland”, beschied er eine Anfrage des Nachrichtensenders N24.
Dabei verstand sich seine Partei zusammen mit den Gewerkschaften einmal als eine Art Router, der die Kommunikation an der gesellschaftlichen Basis, quasi auf den Schichten 1 bis 3, managte und vorgab, wo’s langzugehen hatte. Heute broadcastet der Ex-Router nur noch – ein bisschen Patriotismus, ein bisschen Modernismus, ein bisschen Nostalgie – und weiß nicht mehr, auf welchem Layer er arbeitet.
207.000 Sozialdemokraten sind, nachdem Müntes Freund, der große Administrator Schröder, das bundesdeutsche Rechenzentrum übernommen hatte, offline gegangen. Und ver.di, die größte Gewerkschaft, deren Name eigentlich ganz uptodate klingt – fast wie ein Internet-Protokoll – ist wahrscheinlich die einzige Organisation, die für Mitglieder, die die Verbindung zu ihr kappen wollen, einen Hochglanzprospekt bereithält.
Ein Sturmfeuerzeug bekommt, wer es sich doch noch einmal anders überlegt. Wahrscheinlich hätten sich einige mehr von ihrer Gewerkschaft erwartet, wenn’s in der Gesellschaft stürmt. Aber dank ver.di kann man sich dann zumindest noch eine Kippe anzünden. Damit der IG Metaller Peer Steinbrück wenigstens die Tabaksteuer einkassieren kann.
Ach ja, als ITler weiß man, dass die unteren Schichten entscheidend sind. Aber wahrscheinlich erwartet man sich zuviel davon. Etwa, dass Kauders Putzfrau – auf 400-Eurobasis – das aus dem repräsentativen Regal gefallene Ahlener Programm von dessen Partei ihm auf den Schreibtisch legt oder ihre Kollegin dem Münte das Godesberger.
Oder dass der Praktikant in Westerwelles Büro einmal aus Versehen in den Bild-Blog im Klartext eintippt, was sein Chef will.
Lieber nicht laut sagen sollte man sowas. Sonst kommt gleich die Friedrich-Ebert-Stiftung daher und sortiert einen auf dem Layer 7 ein, bei den kritischen Bildungseliten, weil die es sich gelegentlich herausnehmen, dagegen zu sein. Oder auf Layer 6, dem engagierten Bürgertum, weil man das auch sagt.
Und vielleicht käm’s sogar noch schlimmer und die würden einen als Leistungsindividualisten identifizieren (Layer 5). Schließlich hält man ja für Unsinn, was die Volks- und anderen Parteien zu dem Thema sagen.
Eventuell würden sie einen sogar als selbstgenügsamen Traditionalisten auf Layer 2, einem über dem Prekariat, entlarven, weil man das klassisch-schöne ISO/OSI-Referenzmodell so mag.
Nein, einordnen lassen will man sich da wirklich nicht. Sonst geben gleich wieder Matschie, Kauder, Westerwelle und Konsorten ihren Senf dazu.