Lange Zeit galt es als best Practice in solchen Situationen, in die Kommandozeile “Mari, no a Halbe!” einzugeben, um so im Wirtshaus – also einer per se schon besseren Welt – ein paar Stunden eines Lebens zu verbringen, das nach zwei, drei gut eingeschenkten Halben meist schon ganz anders aussieht als zuvor.
Allerdings ist dieser Lösungsansatz oft mit Performance-Einbußen am nächsten Tag verbunden und wird deshalb heute, da die Zeiten härter und die Leistungsanforderungen maßlos geworden sind, nicht mehr so gerne gewählt. Statt dessen tippen immer mehr etwas anderes ein: http://secondlife.com.
Unter dieser Adresse steht eine zweite Welt im Netz. Eine recht fade allerdings, die nun wirklich einem Vergleich mit jener schaumgeborenen nicht standhält, von der in jedem gescheiten Wirtshaus Dutzende gleichzeitig aufgesetzt werden können. Eine Parallelwelt pro Kopf und Zecher halt.
Second Life hingegen ist eigentlich phantasielos. Ein Clone, der dadurch entsteht, dass man die Bugs der wirklichen Welt kopiert und darüber ihre schönsten Features vergisst. Das geht schon damit los, dass man in Second Life für alles Geld braucht – wie im richtigen Leben.
Die Bildzeitung gibt’s. “AvaStar” nennt Springer das Blatt, das er in der Virtualität herausgibt. Klingt anders, macht die Sache aber nicht besser.
IBM ist natürlich ebenfalls da, hält’s allerdings im Cyberspace auch nicht anders als in der Welt 1.0: Der Konzern hat einen Manager geschickt, dem ein Haufen Geld zur Verfügung steht und der von Visionen mit unverständlichen Namen geplagt wird. Ian Hughes heißt der Mann, nennt sich “Metaverse Evangelist” und kündigt an, sein Unternehmen wolle in Second Life gewaltige Investitionen tätigen.
Als IT-Schreiber fragt man sich da schon, weshalb man sich sowas in der Virtualität anhören soll. Eine der üblichen Pressekonferenzen in der gewöhnlichen Realität tut’s doch auch.
Der Stromkonzern EnBW verteilt Werbegeschenke, die sich lediglich dadurch unterscheiden, dass sie aus Pixeln statt aus Plastik bestehen. Und neuerdings werden sogar schon Vorlesungen vom ersten auf das Second Life verlegt.
Die Berliner Universität der Künste etwa will im Sommersemester einen Studiengang teilweise virtualisieren. “Leadership in digitaler Kommunikation” heißt der.
Bei einem solchen Namen, da wünscht man sich, in den unendlichen Weiten des Cyberspace fände sich doch auch ein Plätzchen für ein Propädeutikum “Deutsch für Künstler, Kommunikationswissenschaftler und andere Leute mit schweren Sprachstörungen”. Kurz: Das Second Life ähnelt immer mehr dem ersten, jedenfalls was dessen nervige Seiten anbelangt.
Die Politik ist ebenfalls vertreten. Schweden hat diese Woche angekündigt, demnächst eine Botschaft eröffnen zu wollen. Klaus Schwab ließ zeitgleich zum Weltwirtschaftsforum in Davos einem Avatar sein Second Life einhauchen. Und vor 14 Tagen gab’s die erste Demo in der Parallelwelt.
Digitale Stellvertreter demonstrierten vor dessen virtualisierter Parteizentrale gegen den französischen Front National. Selbst Rechtsextremisten nämlich lassen sich mittlerweile clonen. Was also, so fragt man sich erneut, soll an diesem Second Life so toll sein? Gebräunte Dumpfbacken gibt’s schließlich auch im ersten mehr als genug.
Na ja, und die Demonstranten müssen auch noch einiges lernen. Kein Wunder, schließlich waren sie, als es gegen die Notstandsgesetze, den NATO-Doppelbeschluss oder die atomare Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf ging, noch überhaupt nicht programmiert. “Verbannt den Front National – Raus aus Second Life”, hatten sie auf ihre Transparente geschrieben.
Freunde, Genossen, Mitavatare – oder wie immer das in Eurer Welt heißen mag – eine völlig dumme Forderung ist das! Umgekehrt wird ein Schuh draus. Rein ins Second Life mit allem, was falsch läuft! Aber raus damit aus dem ersten!
Wär das nicht schön, wenn EnBW, der Stromkonzern mit dem höchsten Kernenergieanteil in Deutschland, im Cyberspace ein sicheres atomares Endlager bauen würde? Dort könnte das vielleicht klappen. In der herkömmlichen Welt hingegen wird’s ja eher schwierig wegen der 20.000 Jahre Halbwertszeit von Plutonium.
Oder BDI und BDA, die beiden Unternehmerverbände, die diese Woche getagt haben, die könnten ihren Sitz ins Second Life verlegen. Das wär’ doch ihre Welt. So ein Avatar kann im Dreischichtbetrieb arbeiten und kennt keinen Kündigungsschutz und kein Tarifrecht.
7 Euro Mindestlohn in Deutschland war den Unternehmern auf ihrer Tagung am Dienstag zwar zuviel. Aber in Second Life könnten sie vielleicht 7 Linden-Dollar zugestehen. Das wäre umgerechnet knapp 3 Cent und würde deshalb unter Umständen keinen allzu großen Standortnachteil für den Cyberspace darstellen.
Ja, und sogar die kleinen Albernheiten der Politik könnten mit Hilfe von Second Life vermieden werden. So wie am Mittwoch der kuriose Trick von einigen Kritikern der Gesundheitsreform unter den Bundestagsabgeordneten.
Die meisten davon sind ja kluge Menschen. Sie wollen nicht, dass die Krankenversicherungsbeiträge steigen, nur um die Arzthonorare und Jahresüberschüsse der pharmazeutischen Unternehmen hoch halten zu können, und hätten deshalb im Gesundheitsausschuss des Bundestages eigentlich dagegen stimmen müssen. Das aber hätte Folgen gehabt. Dann wäre das Gesetz gescheitert. Und so mutig waren sie denn doch wieder nicht.
Deshalb haben die verkniffenen Kritiker sich im Ausschuss durch Ja-Sager vertreten lassen. Sie selbst aber werden heute im Plenum mit nein stimmen. Da schadet’s nicht, weil sie dort in der Minderheit sind.
Der Abgeordnete nämlich ist nur seinem Gewissen verpflichtet. Und besonders freudig kommt er dieser Pflicht nach, wenn das keine unangenehmen Konsequenzen hat.
Für diese Volksvertreter ließe sich doch ein Ausschuss im Cyberspace einrichten. Dort könnten sie dann virtuell ihr Mütchen kühlen. Und auf die Welt 1.0 hätte das keinerlei Auswirkungen.
Andererseits: Was würde dann aus Schreibern, die ihr täglich Brot mit Hohn und Spott und Artikelchen über verquast daherredende IT-Visionäre verdienen? Die müssten es dann ja dem Gegenstand ihrer Berichterstattung gleichtun und ebenfalls ein Second Life aufnehmen.
Und weil man zur täglichen Brotzeit gerne eine gut eingeschenkte Halbe zu sich nimmt, stellt sich gleich eine weitere Frage: Welches Bier wird in der Virtualität ausgeschenkt? Etwa Bud Light, der Schrecken aller USA-Reisenden? Oder gibt’s dort doch jenes golden schimmernde Helle einer Münchner Traditionsbrauerei, das einst der unvergessene Herbert Riehl-Heise als seine Lieblingsmedizin bezeichnet hat? – Wahrscheinlich nicht.
So gesehen, ist das mit dem Second Life vielleicht doch keine so gute Idee. Vor allem in Zeiten, in denen das erste grad so schön ist.
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