Der Kanal nun, den der Beobachter des Zeitgeists im Informationszeitalter zumindest einmal im Jahr besichtigen muss, heißt RTL. Dann, wenn Deutschland den Superstar sucht.
Der diesjährige heißt Mark Medlock. Dieser Künstler zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass er offenkundig die wichtigsten ihm zu Verfügung stehenden Begriffe aus Ernst Wilhelm Julius Bornemanns “Der obszöne Wortschatz der Deutschen – Sex im Volksmund” (Reinbek, 1968) entlehnt hat. Allerdings kannte der 1995 verstorbene Sexualwissenschaftler über 50.000 solcher Begriffe. Dem aktuellen Superstar hingegen sind nur sehr wenige, dafür aber von ihm sehr extensiv gebrauchte geläufig.
So hat er den bislang unvollendeten Dreiklang deutscher Sympathiebekundungen – “Ich liebe Euch alle” (Boris Becker), “Ich liebe Euch doch alle” (Erich Mielke) – mit „Ich liebe euch alle, ihr Arschgeigen!“ (Mark Medlock) nun endlich komplettiert. Und seine freudige Erregung artikulierte er mit einer Ejakulations-Metapher: “Ich spritz gleich ab.”
Man sollte die Bedeutung solch verbaler Tabubrüche nicht gering achten. Je unreifer Menschen sind, desto mehr bedürfen sie ihrer.
Deswegen freuen sich Kleinkinder auch immer so schelmisch, wenn sie bei möglichst unpassender Gelegenheit “Pipi” und “A-ah”, später dann das auch von Erwachsenen gebrauchte Synonym für A-ah und schließlich die ganz verbotenen Wörter sagen.
Mit YouTube steht mittlerweile sogar die videotechnische Umsetzung solcher prä-adulter Tabubrüche im Internet. Die Resonanz eines Postings hängt dort ebenfalls wesentlich davon ab, ob andere das entsprechende Filmchen als geschmacklos empfinden könnten.
Deswegen rechnet sich wohl das Pentagon ebenfalls Chancen aus und stellt Videos vom Irak-Krieg ein – als User MNFIRAQ. Konsequenter Weise sind die denn auch nicht als “adults only” gekennzeichnet. Schließlich zielen sie ja offensichtlich auf das sich an Tabubrüchen delektierende minderjährige Publikum.
Durch die Filmchen-Plattform weht der Zeitgeist mindestens ebenso heftig wie durch RTLs Kanäle. Wahrscheinlich ist es sogar das Youtube-Syndrom, was diesen Zeitgeist überhaupt ausmacht.
Bei den Wirtschaftsnachrichten dieser Tage etwa kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass auch Deutschlands Manager den ‘Spirit of YouTube’ sich in jüngster Zeit ordentlich um die Nase haben wehen lassen. Jedenfalls glauben die heute, ungestraft Tabus brechen zu dürfen. Sie sagen schlimme Sachen, für die man ihnen früher gehörig auf die Finger gehauen hätte – verbal, versteht sich. Und noch schlimmer: Sie sagen solche Sachen nicht nur.
René Obermann, der Telekom-Chef, beispielsweise. Der möchte 50.000 seiner Angestellten dauerhaft weniger Geld – 10 Prozent – für mehr Arbeit – plus vier Stunden – bezahlen. Und damit das besser rüberkommt, verpackt er es mit einem eigenen – einmaligen – Gehaltsverzicht von zwei Monatsvergütungen.
Egal, wie man’s rechnet, die namenlosen Telekom-Beschäftigten müssten mehr abgeben. Also selbst der Versuch, mit gutem Beispiel voranzugehen, fällt recht matt aus.
Trotzdem findet sich – außer den Betroffenen – kaum jemand, der Obermann dafür schilt. Nur das Handelsblatt bemäkelt die “Anbiederung” seitens Obermanns, die es ausgemacht haben will. In den Wirtschaftsredaktionen sitzen nun mal die Leute, die derzeit besonders lustvoll Tabus brechen. Dass Obermann aber, wenn’s denn tatsächlich eine “Anbiederung” sein sollte, nicht einmal den vollen Preis dafür bezahlen will, bleibt wiederum ungerügt.
Oder Siemens. Das war einmal das deutsche Vorzeige-Unternehmen in der Telekommunikationsindustrie. Siemens entlässt keine Leute. Der Konzern gliedert statt dessen Unternehmensteile aus, was aber auf das gleiche hinausläuft.
Erst hat Siemens die Handy-Sparte an Benq verkauft, dann die Netze in das Gemeinschaftsunternehmen mit Nokia auslagert. Ersteres hat alle dort Beschäftigten den Job gekostet. Letzteres bringt 9000 um ihre Stelle.
Bei Siemens ist der Zeitgeist besonders deutlich zu spüren. War dort früher einmal die Moral des skrupulösen Werner von Siemens maßgebend: “Mir würde das Geld wie glühendes Eisen in der Hand brennen, wenn ich den treuen Gehülfen nicht den erwarteten Anteil gäbe.” So gilt in dem Skandalkonzern heute: “Ist der Ruf erst ruiniert, lebt’s sich gänzlich ungeniert”, wie Wilhelm Busch weiland die Freuden des Tabubruchs in Worte gekleidet hat.
Der Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt schließlich sagte diese Woche – und man liest nirgendwo, er sei dabei rot geworden – die Einführung von Mindestlöhnen würde 1,7 Millionen Arbeitsplätze kosten. Anders formuliert: Ein Vollzeit arbeitender, tariflich bezahlter Friseur in Ostdeutschland darf nur 749 Euro im Monat verdienen. Sonst wäre die deutsche Wirtschaft in Gefahr. – Früher, als in der wirtschaftspolitischen Debatte noch gesittet argumentiert wurde, wäre jemandem, der so etwas Dreistes vorgetragen hätte, dies zumindest peinlich gewesen.
Ach ja, was soll man dazu sagen? Nein, man sollte die Enthemmten auf den Chefetagen nicht so titulieren wie Mark Medlock seine Fans. Schließlich liebt man sie ja nicht. Und außerdem gehört sich sowas wirklich nicht, auch in einer Zeit, die am YouTube-Syndrom leidet.
Aber es wäre doch schön, wenn einmal so eine aufgeweckte Rotznase zu diesen Herren sagen würde: “Du, Onkel Dieter, was du sagst, das ist doch Pipi. Und du, Onkel René, was du machst, das ist A-ah.”
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