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Social Engineering

Man vermisst sie inzwischen ja fast schon ein bisschen, “den Tim” und “den Marcel”. Die zwei Youngsters, die, nachdem sie wieder mal irgendjemanden im Haus dazu gebracht hatten, den Türöffner zu betätigen, an der Wohnung klingelten und fragten, ob man Vorurteile gegen ehemalige Drogenabhängige habe.

Eine Frage, die zwei Antwortmöglichkeiten zuließ. Ein “Nein” hätte zum Abschluss eines Zeitschriftenabonnements geführt. Ein “Raus!” führte stets dazu, dass sich der Tim und der Marcel – oder die anderen Duos mit anderen Namen – schleunigst wieder trollten.

Der Tim und der Marcel sind Repräsentanten jener längst vergangenen Zeit, als Gaunerei noch Handarbeit war. Dutzende Klingelknöpfe mussten sie drücken, bevor sie einen Schein schreiben, also jemandem, der allzu gutherzig war, ein Abo aufschwatzen konnten. Ihren Opfern mussten sie dabei immer direkt ins Auge schauen.

Heute funktioniert das anders. Da müssen keine Knöpfe mehr gedrückt werden. Die Nummer wählt der Computer im Call Center. Und statt des Marcels meldet sich dann eine “Marktforschung…” beim Angerufenen, ein Institut, wovon jener noch nie gehört hat, versteht sich: Ob man denn bereit sei, an einer Umfrage teilzunehmen.

Wieder gibt es zwei Möglichkeiten: Ein “Ja” würde zu einem Verkaufsgespräch führen. Die richtige Antwort ist daher: keine – jedenfalls keine, die man in Worte kleidet.

Und noch während das Zusammenspiel von Hörer und Gabel die feierabendliche Ruhe wieder herstellt, überlegt man sich, ob man dem Tim, dem Marcel und all den anderen kleinen Gaunern, die man seinerzeit so rüde aus dem Haus gewiesen hat, nicht doch unrecht getan hat. Schließlich waren sie Pioniere, quasi early Adopters einer Technologie, die heute vielen selbstverständlich geworden ist.

Einen Namen bekommen hat sie in der IT. Da nennt man es “social Engineering”, wenn eine sehr menschliche Seite angesprochen wird, um etwas ganz anderes zu erreichen. Marcel und Tim wollten noch das soziale Mitgefühl für den Zeitschriftenvertrieb nutzbar machen. Und Call Center instrumentalisieren das Verantwortungsbewusstsein der Leute: Forschung muss man schließlich unterstützen.

Alle Seiten des Menschen, die edlen wie die gewöhnlichen, wiederum sprechen die Massen-Mailer an: das Bedürfnis, soziale Kontakte zu pflegen etwa. “You’ve received a postcard from a Friend” steht beispielsweise in der Betreffzeile von Mails, die derzeit kursieren.

Die richtige Antwort darauf ist ebenfalls non-verbal und lautet: Löschen! Denn andernfalls würde man sich Malware einhandeln, die man schwerer wieder los wird als ein Zeitschriften-Abo, und die mehr über einen herausbekommt, als jedes von einem Call Center simulierte Marktforschungsinstitut.

Manchmal stammt diese Mail auch angeblich “from a worshipper”, einer Verehrerin. Das ist dann besonders hinterhältig, kann eine solche Betreffzeile doch wirken wie eine in Text eingebettete Shut-down-Instruktion für das männliche Großhirn.

Die Altmeister des social Engineering wiederum sind die Banken, denn die verfügen über das, was die Phantasie manchmal noch mehr anregt, als eine unbekannte Verehrerin: Geld. Und sie geben sich mit dem vielen, das sie haben, nicht zufrieden, sondern wollen auch noch das wenige, das unsereins hat, noch dazu.

Banken sind die übelsten Massen-Mailer. Und für ihren Spam benötigen sie nicht einmal Zombie-Rechner, sondern versenden ihn als persönlich gehaltenes Schreiben mit seriösem Briefkopf per Post.

“Wind in den Haaren und Geld in der Tasche. Das nenne ich Freiheit”, sagt eine junge Frau im beigefügten Prospekt, die genauso ausschaut, wie man sich jene unbekannte Verehrerin vorgestellt hat. Wer denkt hierbei schon an social Engineering und daran, dass da jemand hohe Zinsen von einem will: Der Prospekt wirbt für einen “Sofort-Kredit”.

Die eher bodenständige Seite des Adressaten spricht ein anderer Flyer an: “Die Immobilie gilt hierzulande als sicherste Altersvorsorge.” Ach ja, seine alten Tage sorgenfrei im eigenen Häuschen auf dem Lande zu verbringen, das wär’s doch! – Geworben wird für einen Immobilienfond in Abu Dhabi.

Die Hypo-Vereinsbank offeriert die FC-Bayern-Sparkarte. Ja, wer jubelt, dass Kahn hält, der kann sich halt nicht auch noch gleichzeitig den Kopf über Rendite-Berechnungen zerbrechen.

Die DAB-Bank wiederum verspricht allen, die bei ihr ein Girokonto eröffnen, einen Benzingutschein über 25 Euro. Wobei man sich da schon fragt, ob der bargeldlose Zahlungsverkehr für Leute das Richtige ist, die noch in Kategorien der Naturalwirtschaft denken.

Überhaupt scheinen Banken ja davon auszugehen, dass bei ihren potentiellen Kunden die Shut-down-Instruction für das Großhirn schon längst ausgeführt wurde: “Gehen Sie an die Börse. Wir übernehmen das Risiko”, verspricht eine.

Ach ja. Dagegen waren der Tim und der Marcel wirklich ehrliche Gestalten. Was aus den beiden geworden ist?

Allzu große Sorgen braucht man sich um sie wohl nicht zu machen. Schließlich war so eine Drückerkolonne seinerzeit eine Art Segelschulschiff für das moderne Marketing. Da haben kleine Gauner das Geschäft von der Pike auf gelernt.

Beim Tim ist man sich ja nicht so sicher. Der könnte durchaus in der Halbwelt geblieben sein: Vielleicht ist er heute Chef eines Call Centers.

Beim Marcel hingegen – das war der Wortführer – ist die Sache klar. Der wird sehr wahrscheinlich weiter abgedriftet sein. Möglicher Weise ist der sogar inzwischen Vertriebsleiter bei einer Bank.

Silicon-Redaktion

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