IBM macht keine Applikationen?
Lange Zeit hat IBM den Kunden glaubhaft machen wollen, dass das Unternehmen sich nicht bei Applikationen engagiert. Konsequenterweise wurde alles als Middleware klassifiziert.
Bei dem CAD-System CATIA war diese Positionierung schon nicht tragfähig. Das gleiche galt für das Lotus-Angebot. Bei Rational konnte man geteilter Meinung sein. Hier handelt es sich um Entwicklungswerkzeuge, die nicht mit einem Transaktionssystem vergleichbar sind. Trotzdem richtet sich das Angebot an einzelne Benutzer in einem Unternehmen, es bietet eine Benutzeroberfläche für eine große Zahl von Usern, und es besitzt somit nicht die Eigenschaften einer klassischen “unsichtbaren” Middleware-Komponente. Bei Filenet war es dann endgültig vorbei mit der glaubhaften Positionierung als reine Middleware.
Es bleibt zwar richtig, dass IBM sich nicht durch die Übernahme eines klassischen Enterprise Applikationsanbieters exponieren will, aber mit der neuesten Ankündigung ‘Lotus Symphony’ – einer Suite von Online-Office-Tools – positioniert sich IBM frontal zu Microsoft. Es wird wohl niemand behaupten wollen, dass Lotus Notes keine Enduser-Anwendung ist. Die Ausweitung auf Online-Productivity-Tools enthält eine Textverarbeitung, ein Präsentationstool und ein Tabellenkalkulationssystem. Es trifft damit in den Kern der Profitabilitätsmaschine MS-Office von Microsoft.
IBM kann durch diesen Schritt mehrere Ziele gleichzeitig verfolgen: Einerseits kann IBM demonstrieren, dass das Unternehmen auf der Höhe der Zeit ist und ähnliche Services anbietet wie Google (Text und Tabellen). Der Lotus Brand wird für “cooles” Marketing an die junge Generation fit gemacht. Die hohe Zahl der Downloads in den ersten Tagen nach der Ankündigung spricht eine deutliche Sprache. IBM tritt nun offiziell gegen Microsoft an und könnte den Redmonder Konzern auch hier empfindlich treffen. Nachdem Linux unter anderem auch von IBM die “höheren Weihen” bekommen hat und sich großer Verbreitung und Beliebtheit erfreut und letztlich auch Microsoft in dem zweiten profitträchtigen Bereich (Betriebssysteme) hart trifft, adressiert IBM nun den Desktop und will endgültig zurück zum Anwender.
Bei der Diskussion um die Standards für Office-Dokumente musste Microsoft kürzlich eine Reihe von Niederlagen einstecken (ODF vs OpenXML). IBMs Beitritt zur OpenOffice.org erhöht die Glaubwürdigkeit nochmals. Auch wenn Online-Office-Tools nicht immer der Weisheit letzter Schluss sind, haben diese auf OpenOffice basierenden Tools das Potenzial, das derzeitige Marktgefüge bei Office-Productivity-Tools erheblich zu stören.
Schlussfolgerung: IBMs Behauptung nicht im Anwendungsbereich aktiv zu sein, ist nicht mehr glaubwürdig aufrecht zu erhalten; und IBM hat sich bei den Anwendungen den größten denkbaren Gegner vorgenommen: Microsoft. Die Schlappe, die IBM bei den Betriebssystemen (OS/2 vs Windows) Anfang der 90iger Jahre einstecken musste, ist noch lange nicht vergessen.