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Die Kanzlerpartei im Cyberspace

Dabei braucht man sich diese Leute doch nur anzuschauen. Über die ist doch schon alles gesagt worden: Betonköpfe, Hinterbänkler, Traditionalisten, Reformverweigerer, Ewiggestrige. Es sind Leute, über die es gemeinhin heißt, dass sie noch nicht im Informationszeitalter angekommen sind. Geistige Ruhrpottler quasi.

Klar, dass die vieles nicht einsehen wollen. Beispielsweise, dass der Kanzler den Arbeitslosen erst einmal die Stütze wegnehmen muss, bevor er sie gehörig “fördern und fordern” kann. Und er meint es doch bloß gut, unser Kanzler. Basta!

Die brauchen da ja auch gar nicht mitzumachen – bei der “Reform des Sozialstaats”. (Übrigens: Wer politisch auf der Höhe der Zeit ist, der stellt bei diesem Key-Issue immer das Attribut “dringend notwendig” vor und macht ein besorgtes Gesicht dazu. Damit gilt er dann als Sozialexperte und kann anderen Sozialexperten mit besorgtem Gesicht als Referenz dienen.)
Auch das sozialdemokratische Mitgliederbegehren wär’ so schlimm nicht. “Wir sind die Partei!” Das liest sich sogar recht ansprechend und zeigt, wie nachhaltig die Arbeiterbildungsvereine aus den Anfangsjahren der Partei doch gewirkt haben. Im Unterschied zum katholischen Vorbild von “Wir sind Kirche!” ist den Sozis sogar der Gebrauch des Artikels geläufig. Das sollte man diesen Traditionalisten schon zubilligen und auch gönnen.

Nein, was echt heimtückisch ist: Dass sie die Sache übers Internet organisieren. Eine eigene Domain haben sie sogar. Mit einem eingängigen Namen: www.mitgliederbegehren.de. Und den Text gibt’s dort als pdf-File. Sowas gehört sich nicht für Ewiggestrige. Die gehören in rauchige Hinterzimmer, aber nicht ins Web. Da kommen doch sämtliche politischen Kategorien durcheinander!

Und außerdem wollen sie, dass ihre Genossen das Internet dazu missbrauchen, um mitzureden. Empörend!

Dabei machen die anderen doch so schöne Dinge im Web. Die CSU beispielsweise mit www.stoiber.de. “Präsentiert wird der private Stoiber, der Familienmensch und natürlich der bergversessene Urlauber.” So urteilt der berufsmäßige Surfer von der Internet-Postille www.politik-digital.de.

Ist doch auch wahr. Was interessiert schon Politik. Schließlich wollte der Stoiber nicht nach Berlin, um Politik zu machen, sondern zum Kraxeln.

Allerliebst war vor der Bundestagswahl auch die FDP-Site www.achtzehnzweitausendzwei.de. Inzwischen heißt sie anders – wohl nicht nur, weil das Jahr 2002 vorüber ist. “Die Fundraising-Kampagne 18/2002 Bürgerfonds für Deutschland’ soll den FDP-Wählern ermöglichen, aktiv am Wahlkampf teilzunehmen”, hieß es dazu in Politik-digital.

Das war aber auch wirklich mal eine schöne und moderne Form der politischen Partizipation: Kohle abdrücken über’s Web.

Ja, und selbst große Teile der SPD pflegen einen angemessenen Umgang mit dem Cyberspace. Peter Glotz etwa, Landtagsabgeordneter, Bundestagsabgeordneter, Bildungsstaatssekretär, Senator, Bundesgeschäftsführer und Gründungsrektor. Zwischen seinen einzelnen Karrierestationen hat er unzählige Bücher geschrieben, in denen er alle wichtigen Leute zitiert hat, weshalb er ja selbst auch wichtig ist.

In seinem vorerst letzten Buch “Die beschleunigte Gesellschaft” hat er dann den “digitalen Kapitalismus” erfunden, den er persönlich eigentlich ganz in Ordnung findet: “Ich bin ein beschleunigter Mensch und kann auch mit großer Geschwindigkeit gut leben.”

Und sogar die grauen Mäuse in der SPD-Zentrale sind mittlerweile recht dynamisch. In Wahlkampfzeiten etwa bildet die älteste deutsche Partei inzwischen OCTs (Online Campaigning Teams). So jedenfalls werden sie im PR-Guide-Online der Wahlkampfleitung genannt: “In einem passwortgeschützten Bereich werden ‘Jobs’ aus der täglichen Arbeit im Wahlkampf gepostet, für die sich OCT-Mitglieder dann aktiv zur Verfügung stellen.”

Gleich noch’n Zitat: “Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung mit.” So heißt’s in Artikel 21 Grundgesetz. Und zu dem Zweck können – dank dem Web – Mitglieder der Parteien heute in Passau Plakate kleben, morgen in Kiel und übermorgen in Leipzig. Das ist Politik mit Internet-Speed.

Und sogar der Wähler wird jetzt digital administriert. Die SPD-Kampa-Zentrale hat dazu das VRM (Voter Relationship Management) erfunden. Im oben zitierten PR-Guide-Online wird es ausgiebig beschrieben. In jüngster Zeit allerdings scheint das sozialdemokratische VRM-System nicht mehr so recht zu performen.

Aber trotzdem: So funktioniert Politik im 21. Jahrhundert. Und dann kommen doch tatsächlich irgendwelche Reformgegner daher und wollen, dass die Internet-Kommunikation zwischen Basis und Führung plötzlich bidirektional wird.

Wobei die SPD-Parteiführung ja auch selbst schuld ist: Wenn man schon sowas Gefährliches wie ein Mitgliederbegehren in die Satzung schreibt, dann sichert man sich doch auch bei der Denic die gleichnamige URL. Sonst läuft man halt wirklich Gefahr, dass jemand die Satzung ernst nimmt und ein Mitgliederbegehren initiiert. Übers Web!

Und das ist ja das Gefährliche an der Demokratie: Die Leute – die Voters – die, die parteiintern und -extern abstimmen. Von denen ist doch jeder einzelne ein Point of Failure. Unser Kanzler sieht das auch so.

Silicon-Redaktion

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