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TV gnadenlos

Nach ein Uhr früh, da findet man sich überall vor Gericht wieder. Und diese Vorstellung ist ja für einen anständigen Bürger nun wirklich der schiere Horror.
Und die Fälle, die die Juristen da im Halbstundenrhythmus verhandeln, die sind auch nicht gerade dazu angetan, einen beruhigt einschlafen zu lassen. Die Juristen: der Vorsitzende des obersten SAT-1-Strafgerichts Alexander Hold, streng und mit einer leicht bayerischen Sprachfärbung – die Verkörperung des weiß-blauen Rechtsempfindens schlechthin, die Richterin Barbera Salesch – urteilt ebenfalls im Namen von SAT 1, der väterliche RTL-Familienrichter Frank Engeland, die verständnisvolle Jugendrichterin Dr. Ruth Herz, gleichfalls von RTL besoldet, die Kanzlei Lenßen & Partner und viele andere mehr.

Da geht es dann um eine vermeintlich böse Schwiegermutter, die aber in Wahrheit in der Frau ihres Sohnes dessen vor vielen Jahren zur Adoption freigegebene Schwester wiedererkannt hat und deswegen nur weitere Verstöße gegen das Inzestverbot (§ 173 StGB) verhindern möchte. Um die Vergewaltigung eines mit Potenzmitteln vollgepumpten und ans Bett gefesselten Mannes im Krankenhaus. Um Sekundenkleber in der Erektionspumpe. Und um andere Geschichten, die das Leben und Drehbuchautoren schreiben, die das ganz alltägliche juristische Geschäft vor Augen haben.

Abgründe tun sich da auf! Nun könnte man sich auch sagen, dass Gerichtsserien vielleicht ja bloß so viel mit der juristischen Wirklichkeit zu tun haben wie Sabine Christiansens Talkrunde mit der gesellschaftlichen. Aber das hilft meist auch nicht so recht.

Diesmal ging’s bei Christiansen übrigens um den Fall Gerster: Obwohl gegenüber Leuten, die entlassen worden sind, heute ja eigentlich ein eher rüder Ton angeschlagen wird, ist Florian Gerster von allen Seiten sehr viel Verständnis entgegengebracht worden. Wenn künftig auch dem persönlichen Schicksal von jedem, der eine schlechter bezahlte Stelle verliert, Sonntags Abends im Fernsehen eine ganze Stunde gewidmet wird, dann müsste wohl die nun wirklich sehr beruhigende Sendung “Die schönsten Bahnstrecken der Welt”, ARD, Montag Morgen, kurz nach 4, auf Jahre hinaus ausfallen.

Die Frage also, die einen Nachts vorm Fernseher um den Schlaf bringt: Ist die Welt wirklich so schlimm? Ist sie natürlich nicht. Sie ist schlimmer.

Das kann man ja schon unschwer an den Besetzungslisten der Gerichtsserien erkennen: Die Juristen sind echt! Und Euer Ehren würde sich doch wohl nicht für irgendeinen Klamauk hergeben, bloß um ein kärgliches Richtergehalt aufzubessern. Besoldungsgruppe R geht bis 10.000 Euro ohne Zuschläge. Das wäre ja… Da hat man doch gleich den strengen Vorsitzenden Alexander Hold vor Augen, wie er ein saftiges Ordnungsgeld verhängt wegen der Missachtung des Gerichts als solchem.

Nein, die Fernsehrichter wollen warnen. Kommt vor den Schranken wirklicher Gerichte doch noch viel Bizarreres zutage als vor jenen der Billigkulisse von privaten TV-Serien. Man braucht sich nur einmal die Prozesse in der IT-Industrie anzuschauen.

Da klagt etwa ein – weitgehend anwaltseigenes – Software-Unternehmen Namens SCO um die Eigentumsrechte an Linux, die es durch IBM verletzt sieht. Mindestens eine Milliarde Dollar will es deswegen haben.

Eigentlich heißt die Firma Caldera. Unter diesem Namen hatte sie auch schon einmal Erfolg, weil Microsoft in gewohnter Manier ein Konkurrenzprodukt vom Markt gefegt hat. DR-DOS hieß das. Die Rechte daran hatte Caldera gekauft, Microsoft mit einem Prozess gedroht und außergerichtlich 1/4 Milliarde Dollar herausgeschlagen. In Sachen Linux weiß die Caldera-Nachfolgerin natürlich Redmond auf ihrer Seite. Was sind dagegen schon ein paar Tropfen Sekundenkleber in einer Erektionspumpe.

Das Oberlandesgericht München hat jetzt dem notorischen Kläger RA Günter von Gravenreuth rechtgegeben. Der hatte diesmal die SPD wegen deren E-Cards angezeigt. Spam! befand das hohe Gericht. Ein glattes Fehlurteil. Bei Spam handelt es sich schließlich definitionsgemäß um Massen-Mails. Und wenn sie irgendeines Vergehens bezichtigt wird, das mit Massen zu tun hat, dann ist die weiß-blaue Sozialdemokratie doch eigentlich wegen erwiesener Unschuld freizusprechen.

Tröge Juristerei hingegen ist, dass der internationale Musikindustrieverband letzte Woche angekündigt hat, auch in Europa gegen die Nutzer von Tauschbörsen zu klagen. Da greift die deutsche Filmbranche und ihre Zukunft Kino Marketing GmbH doch ganz anders durch. “Hart aber gerecht” heißt – nein, nicht deren Gerichtsserie – deren Kampagne gegen Raubkopierer. Die Leute wissen halt einfach, was vor der Kamera passieren muss, damit’s ein Knüller wird.

“Hart aber gerecht” ist denn auch die einzige Reihe, die Perspektiven jenseits des gegenwärtigen laschen Rechtsstaats aufzeigt. In der Folge beziehungsweise im Spot “Liebe Raubkopierer, wir freuen uns auf Euch” malen sich die Macher genüsslich aus, was langjährige JVA-Insassen mit jungen, wegen Verstoßes gegen das Urheberrecht Verurteilten so alles anfangen könnten. Man braucht schließlich kein Krankenhaus und keine mit Potenzmitteln vollgepumpten Patienten, um eine Vergewaltigung publikumswirksam zu inszenieren.

Macher sind halt Leute, die die eigenen Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen. Im Fall der Rechtssprechung nennt man sowas Selbstjustiz.

Auf jeden Fall aber ist “Die schönsten Bahnstrecken der Welt” eine wunderbare Sendung, bei der man trotz der menschlichen Abgründe aus den vorangegangenen Gerichtsserien und der Realität, immer schnell in einen wohligen Schlummer fällt.

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Silicon-Redaktion

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