Trotz Goldesel-Beweis: Deutsche Firmen sperren SCM-Anbieter aus
Der Markt für Supply Chain Management (SCM) wächst wieder, hierzulande und auch weltweit. Lösungen für den Mittelstand lassen aber weiter auf sich warten.
Bis vor einigen Woche litt der texanische SCM-Anbieter i2 unter einem dicken Minus in der Bilanz. Nicht nur aufgrund Rückstellungen für eine mögliche Einigung mit der US-Börsenaufsicht SEC, die wegen Bilanzierungsfehlern ermittelt, sondern hauptsächlich weil die Nachfrage fehlte. Vor zwei Jahren war der SCM-Markt eingebrochen und Anbieter wie i2, Konkurrent Manugistics und hierzulande die Wassermann AG hatten schwer zu kämpfen.
Nun konnte i2, pünktlich zum Auftakt der jährlichen Anwenderkonferenz ‘i2-Planet’ nicht nur dicke Order sondern auch eine Finanzspritze von 100 Millionen Dollar der Venture-Capital-Firma Q Investment melden. Damit erhöht sich die Firmenbeteiligung der Investment-Firma auf 26 Prozent beziehungsweise auf rund 140 Millionen Anteilscheine. i2-Firmengründer und Vorstandsvorsitzende Sanjiv Sidhu spricht von einem 100-Millionen-Dollar-Vertrauensbeweis. “Wir haben immer an uns und unsere Kunden geglaubt. Doch diese Investition verleiht diesem Glauben Sicherheit”, so der i2-Chef. Gebunden an die Q-Investment-Mittel schießt Sidhu nun zusätzlich 20 Millionen Dollar ins Unternehmen und kauft für diesen Gegenwert Aktien.
Kunden berichten von rentablen SCM-Projekten
Die Continental AG ist seit gut drei Jahren i2-Kunde. Dirk Petermann verantwortet im Bereich EMEA (Europe, Middle East, Africa) die Supply Chain für PKW-Reifen mit einem Umsatz von rund 3 Milliarden Euro pro Jahr. Die Entscheidung für die i2-Produkte habe ihn nie gereut, betont er. Doch das finanzielle Damoklesschwert über dem Anbieter habe ihn “ein bisschen Blut und Wasser schwitzen lassen”. Angesichts der gut situierten Kundschaft sei wohl niemand auf die Idee gekommen, i2 würde gänzlich vom Markt verschwinden, doch eine Übernahme sei durchaus denkbar gewesen. Auch jetzt, so Petermann, habe sich das Thema Akquisition noch nicht gänzlich erledigt. “Aber die Talsohle ist durchschritten”, sagt er.
Diese Einschätzung seines Software-Lieferanten und des SCM-Marktes teilt Petermann mit Analysten wie Dwight Klappich vom Marktforschungsunternehmen Meta Group. Dieser geht davon aus, dass sich der SCM-Markt berappelt und er rechnet mit einem “moderaten Wachstum”, wenngleich dieses zweistellig ausfallen könne. Dass es nicht brummt wie vormals, liege zum einen daran, dass die Preise noch immer im Keller lägen. i2 könne mit denselben Produkten in etwa nur halb so viel einnehmen wie ursprünglich. Außerdem gingen die Kunden gezielter vor. “Man kann eine Lieferkette nicht einfach über Nacht ändern”, betont Klappich. Das bedürfe der Vorbereitung mit Hilfe einer gut ausgearbeiteten SCM-Strategie. Bei der Umsetzung sei sodann ein inkrementelles Vorgehen ratsam.
Angetrieben würden SCM-Projekte hauptsächlich durch Outsourcing und E-Business. Unternehmen gingen immer mehr dazu über, Produktions- und Logistik-Prozesse an Lieferanten und Partner auszulagern. Die steigende Komplexität erfordere jedoch bessere Kontrollen, mehr Automatismen und Effizienz in den Lieferketten. Dazu komme, dass die Unternehmen mehrere Vertriebswege gehen wollten oder müssten. E-Commerce sei dabei ein wichtiger Kanal, auf den die Firmen nicht verzichten wollten.
Lieferketten-Management stellt Firmen auf den Kopf
Erstaunt zeigt sich Klappich, dass der Markt SCM-Planung und -Steuerung nicht früher adaptiert habe. Tatsächlich berichten Kunden von außergewöhnlichen Erfolgen. Laut SCM-Manager Petermann beispielsweise hat sich die Investition in i2-Anwendungen in weniger als einem Jahr rentiert, wobei der positive Cash Flow in der Supply Chain rund zehn Mal dem i2-Investement entspreche. Bis auf die Verfügbarkeit hätten sich zudem alle Erwartungen erfüllt, die an die i2-Einführung geknüpft waren. Das ist um so erstaunlicher, als sich die Komplexität zugleich erhöht habe. Noch 1990 zählte der Continental-Bereich rund 1000 Produkte. Heute sind es 3300. So sind die Lagerbestände bis zu 30 Prozent gesunken. Die Planungsgenauigkeit dagegen hat sich verdoppelt und Auftragsbestätigungen an die Kunden werden zu 100 Prozent erfüllt. Die Verfügbarkeit scheitert lediglich an der zu hohen Nachfrage.
Doch indirekt erklärt das Beispiel des Reifenherstellers auch, warum SCM-Projekte trotz eindeutiger Profitabilität vergleichsweise selten angegangen werden. Dem Betrieb mit i2-Produkten ist eine massive organisatorische Umgestaltung vorausgegangen, wobei unter anderem alte Verantwortungsbereiche zerstört und neue aufgebaut worden sind. So wurde bei der Continental AG ein Supply Chain Management über mehr als 15 Jahre immer wieder angedacht und verworfen, bevor der Leidensdruck so groß war, dass im Jahr 2000 endlich eine Produktevaluierung stattfinden konnte.
Für den SCM-Spezialisten entschied sich Petermann, weil andere Produkte den komplexen Anforderungen nicht gerecht geworden wären. Auch für Meta-Group-Analyst Klappich steht außer Frage, dass nur SCM-Anbieter die adäquate Software offerieren, um Lieferketten in den Griff zu bekommen.
In Deutschland ist alles anders
Doch Christian Glas, Berater bei Pierre Audoin Consultants (PAC), beurteilt die Situation anders, speziell für den deutschen Markt: “In Deutschland ist i2 nur noch ein Nischenanbieter, der seine bestehende Kundschaft gegen SAP verteidigen muss.” Im Gegensatz zum Meta-Group-Kollegen Klappich stellen für ihn die SAP-Lösungen sehr wohl eine Alternative zu den klassischen SCM-Anwendungen dar. “Die SAP-Applikationen sind nicht mehr weit weg von dem, was i2 anbietet.”
Die typischen SCM-Hersteller liefern seit jeher Produkte für die Planung und Optimierung von Lieferketten – eine Domaine, die klassische ERP-Systeme nicht abdecken. So kann i2-Chef Sidhu sagen: “ERP-Software dient dazu, Transaktionen auszuführen, ein SCM-Produkt dagegen, unternehmerische Pläne zu erfüllen.” Darüber hinaus hat sich das Produktportfolio von SCM-Anbietern erweitert und kann in der Regel alle Ebenen des Lieferketten-Managements, zum Beispiel auch das Überwachen, abdecken. Fachberater Wolfgang Martin spricht in diesem Zusammenhang vom “Closed Loop”, von einem integrierten Kreislauf.
i2 bietet zudem eine Middleware an, die zu Teilen in Konkurrenz zum SAP-Konzept Netweaver zu sehen ist, aber auch Elemente von EAI-Systemen (Enterprise Applikation Integration) enthält. Allerdings bietet das ‘Suppy Chain Operating System’ (SCOS) von i2 speziell auf SCM-Prozesse zugeschnittene Elemente wie die Kennzahlen im ‘Performance Manager’.
Der Bedarf ist beim Mittelstand am größten
Doch tatsächlich betrachten auch die für Europa zuständigen i2-Manager den deutschen Markt als eine besondere Herausforderung. Lee Gill, bei i2 zuständig für Handelsunternehmen in Europa, erläutert den Status Quo in seinem Marktsegment: “In Deutschland gibt es noch viele Eigenentwicklungen. Bisher waren die Unternehmen offenbar noch nicht bereit für SCM-Standardapplikationen.” Außerdem gebe es für die Sortimentsgestaltung und Werbung eigentlich nur ein einziges Kriterium – das sei der Preis, obwohl die Margen bereits lächerlich gering seien.
Ein weiteres Problem für Anbieter wie i2 könnte die mittelstandsgeprägte Unternehmenslandschaft in Deutschland sein. Denn der Hersteller hat wie andere seines Faches hauptsächlich Kunden aus international tätigen Konzernen wie Nokia, DaimlerChrysler, Infineon, Samsung und Posco.
Den größten Nachholbedarf sehen Marktbeobachter jedoch im gehobenen Mittelstand. Seit Kurzem bieten i2 und World Chain Festpreispakete zu je 500.000 Dollar an. Jennifer Chew, Analystin bei Forrester, sieht darin einen richtigen Schritt, dem andere SCM-Anbieter folgen sollten.
Prozessorientierung ist der Schlüssel
PAC-Berater Glas, der gerade eine neue Marktstudie zum SCM- und SRM-Markt 2004 in Deutschland herausgebracht hat, kann trotzdem für den hiesigen Markt gar keine Alternative zu SAP entdecken. Speziell für den Mittelstand scheint es demnach ein regelrechtes Vakuum zu geben; der Bedarf ist da, doch es fehlt an Lösungen. Selbst Microsoft fülle laut Glas die Lücke nicht.
Interessant scheint daher der Ansatz der GUS Group AG & Co. KG zu sein. Der Software-Anbieter stellt seit eh und je Systeme für das Enterprise Ressource Planning (ERP) her. Seit der CeBIT dieses Jahres bietet das Kölner Softwarehaus ein ganz neues, prozessorientiertes System an. Das ‘GUS OS ERP for Life Science’ setzt auf dem Funktionsumfang und dem Datenmodell der bisherigen Branchenlösung ‘Charisma’ für Pharma, Food, Chemie und Logistik auf. Im Gegensatz zu dieser jedoch ist das Produkt in Java implementiert, Browser-basiert und verfügt über ein Workflow-Management. ToDo-Listen führen den Benutzer.
Martin Vollmer, Leiter GUS-Produktmarketing, positioniert seine Lösung als Antwort auf die Herausforderungen, die mit neuen Richtlinien und Gesetzen auf Hersteller und Händler zukommen. Da gibt es zum Beispiel die EU-Verordnung 178/2002 für den Lebensmittelsektor, die in Teilen bereits seit Januar 2002 in Kraft ist. Ab Januar 2005 jedoch gilt sie in vollem Umfang auch für den Handel und sieht die Chargen-Rückverfolgung über alle Instanzen hinweg vom Erzeuger bis zum Verbraucher vor.
Das erfordert Maßnahmen zur Lebensmittelsicherheit, zum Qualitäts-Management, zur Risikobewertung und der zeitnahen Verbraucherinformation. Laut Vollmer müssen Rückrufe dann etwa binnen einer halben Stunde erfolgen, am besten während das Produkt noch unterwegs ist und auf jeden Fall bevor es im Regal landet. Mit einem ähnlichen Tracing- und Dokumentationsproblem sehen sich übrigens OEMs von Hewlett-Packard bis Lucent sowie ihre Zulieferer spätestens ab 2006 konfrontiert, wenn neuen Verordnungen für Elektroschrott gültig werden.
Was die GUS-Anwendung in Bezug zum Lieferketten-Management so charmant erscheinen lässt, ist die Prozessunterstützung, die zudem branchenrelevant daherkommt. Vollmer sieht darin auch einen zeitlichen Vorsprung zu SAP-Applikationen. “Doch die Walldorfer werden schon bald den Vorsprung aufgeholt haben”, bedauert er.