Ikonographie
Kreta ist ja die Wiege Europas. Dahin entführte der Göttervater Zeus die gleichnamige schöne Phönizierin, um mit ihr den Minos zu zeugen.
Kreta ist ja die Wiege Europas. Dahin entführte der Göttervater Zeus die gleichnamige schöne Phönizierin, um mit ihr den Minos zu zeugen. Zuvor hatte er sich in einen Stier verwandelt, was er gerne tat, wenn ihm schmusig zumute war.
Kreta ist sinnlich. Nachts noch ist die Haut schöner Frauen erhitzt von der Sonne eines heißen Tages am Strand… und Mittags im Restaurant bestellen sie die phantasievollsten Gerichte mit den mit seltensten Gewürzen der Levante.
Die sie begleitenden männlichen Schreibtischtäter, die sich – ungewohnt kurzbehost – häufig recht albern vorkommen, ordern hingegen meist einfallslos Moussaka, weil sie das kennen und weil es Wiener Schnitzel – das sie noch besser kennen – nicht gibt.
Und so kommen sie in den Genuss der phantasievollsten Gerichte mit den mit seltensten Gewürzen der Levante, weil jene – wie die schönen Frauen immer dann finden, wenn diese Speisen schließlich serviert werden – doch etwas eigenartig ausschauen, und schöne Frauen bei solch einem Anblick immer feststellen, dass sie eigentlich doch lieber Moussaka hätten.
Man hat’s ja leichter heutzutage an solchen Gestaden als weiland die Römer, die Byzantiner, die Venezianer und die Osmanen, als die auf Kreta landeten. Die nämlich verstanden zumeist die Sprache jenes Teils der Bevölkerung nicht, den sie anlässlich der Eroberung der Insel nicht erschlagen hatten.
Heute hingegen klappt die Kommunikation problemlos. Fast überall in der alten Welt verständigt man sich schließlich auf Euro-Basis. Und darüber hinaus behilft man sich mit der modernen Variante der byzantinischen Ikonographie.
Vom heimischen Desktop her ist man damit ja wohlvertraut: Nach dem Anklicken der Reglersymbole kann man die Lautstärke seines Rechners regulieren, nach dem des Monitor-Icons den Bildschirm einrichten. Die stilisierte Maus steht für die graphische Anzeige. Und nach dem Doppelklick auf ein ein paar Pixel großes Elster-Bildchen – der Name steht für ELektronische STeuerERklärung – da kann man alle erforderlichen Angaben zu Umsatz-, Einkommens- und Kapitalertragssteuer machen, die man zu bezahlen hat, und erfährt, dass es selbst in den dem unsäglich drögen Hans Eichel unterstellten Ämtern ein paar echte Komiker gibt, die die hauseigene Software nach dem diebischen Rabenvogel benannt haben.
Im Urlaub wiederum helfen einem Icons – oder Piktogramme – den konsumierten Retsina an den dafür vorgesehenen Örtlichkeiten zu entsorgen. Die sind ja nach Damen und Herren unterschieden, was sich ikonographisch leicht umsetzen lässt.
Piktogramme weisen einen darauf hin, dass das Rauchen verboten ist: das rot ausge-ix-te, rechts mehrfach unterbrochene Rechteck mit den stilisierten Wölkchen darüber. Leider immer noch sehr selten vorzufinden ist hingegen das durchgestrichene Handy-Symbol.
Die klassische feministische Forderung – dass auch Männer im Sitzen bieseln sollen – hat ebenfalls schon einen ikonographischen Ausdruck gefunden: ein durchge-ix-tes stehendes Strichmännchen, von dessen Körpermitte ein Strich schräg nach unten abzweigt, in Richtung eines Kloschüssel-Bildchens. Strichmännchen mit schräg nach oben weisender Abzweigung sieht man gleichfalls gelegentlich – zusammen mit Strichweibchen auf den T-Shirts von Touristen, die sowas lustig finden.
Und weil richtige deutschsprachige Zeitungen auf Kreta oft nicht erhältlich sind, informiert man sich über die Vorkommisse in der fernen Heimat ebenfalls mittels einer ikonographischen Publikation. Man liest “Bild” (griechisch: eikon).
Dort nun erfährt man, was wenig überraschend ist, dass die SPD wieder mal eine Wahl verloren hat. Erstaunlich aber sind die Erklärungen dafür: Die Verlierer machen ihren ehemaligen Vorsitzenden dafür verantwortlich.
Und der Gewinner? Peter Müller heißt er und ist eigentlich auch ein Loser, denn seine Partei hat 17 Prozent ihrer Wähler verloren, was sich nur dadurch relativiert, weil’s bei den anderen 45 Prozent waren. Der schreibt der Unperson von der Saar sogar die Erfolge archaischer Nichtdemokraten zu.
An den geschichtsträchtigen Gestaden Griechenlands, der Wiege der Demokratie, stimmt einen das doch sehr nachdenklich. Offenkundig hat sich dieses gute politische Prinzip in Europa noch immer nicht richtig durchgesetzt. Und die Politiker – anstatt das Demos, das Volk, ernst zu nehmen – bemühen statt dessen lieber Mythen. Die zudem bei weitem nicht so hübsch sind wie jene von der schönen Phönizierin und dem Göttervater.
Gedankenverloren schweift da der Blick über den Rand der Bild-Zeitung hinaus nach Norden zum Meer und dann nach Osten, von woher einst der göttliche Stier Europa durch die Wellen trug. Ganz rechts oben müsste es doch eigentlich sein. So ist man’s jedenfalls vom graphischen User-Interface her gewohnt.
Aber da ist nichts – kein x zum Wegklicken.