Und er fährt fort: “Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt …”
In der Folge entwickeln sich in Mittel- und Westeuropa Demokratie und Rechtstaat, die hier inzwischen – alles in allem – auch recht gut funktionieren. Zusammen mit dem technischen Fortschritt bilden sie das, was man gemeinhin als Zivilisation bezeichnet: Der Mensch ist nicht mehr bloßes Objekt eines erbarmungslosen natürlichen Zyklus von geboren werden – sich durchsetzen – sich paaren – und sterben. Und das ganze möglichst schnell, denn das Leben – ohne die Zivilisation – ist kurz.
Das Leben – in Nordamerika, Mittel- und Westeuropa – ist nicht mehr kurz: 75 Jahre dauert es im Schnitt. Zur Zeit der Cäsaren waren es gerade mal 22 Jahre. Ermöglicht haben das Wissenschaft und Technik, die im Siècle des Lumières aufzublühen begannen.
Selbstverständlich konnten auch Fehlentwicklungen nicht ausbleiben. Deren gravierendste ist wohl die globale Klimaerwärmung, wegen der in jüngster Zeit vermehrt verheerende Wirbelstürme auftreten. Die zweitgrößte Rückversicherung, die Swiss Re, erwartet innerhalb von zehn Jahren einen Anstieg des versicherten Schadens auf 30 bis 40 Milliarden Dollar.
Allerdings ist das Seebeben in Südostasien nicht von Menschen verursacht. Es war eine echte Naturkatastrophe.
Wissenschaft und Technik jedoch ermöglichen es, derartige Naturereignisse exakt zu beschreiben. Die Daten sind bekannt: Am 26.12.2004, um 7 Uhr 59 Ortszeit, schiebt sich auf einer Länge von rund 1000 Kilometern die Indisch-Australische Kontinentalplatte unter die Eurasische. Die Folge ist ein Erdbeben der Stärke 9 mit dem Epizentrum 3 Grad nördlicher Breite und 96 Grad östlicher Länge.
Auch wie man sich vor durch Beben ausgelösten Flutwellen schützen kann, ist bekannt: Ein paar Drucksensoren am Meeresgrund und einige Bojen mit Satellitenanbindung reichen technisch dafür aus.
An einem “Mangel des Verstandes” haben also die furchtbaren Auswirkungen des Seebebens nicht gelegen. Sie sind verschuldet.
Wo die Ursachen zu suchen sind, zeigt wiederum die Swiss Re. Deren Aktienkurs machte im Gefolge der Katastrophe einen Sprung nach oben, nachdem sich bestätigte, dass die Flut die Finanzen des Assekuranz-Konzerns lediglich mit einem relativ bescheidenen zweistelligen Millionenbetrag belastet. Bambus- und Wellblechhütten sowie das Leben der darin wohnenden Menschen sind schließlich nicht versichert.
Und entsprechend wenig Vorsorge wird dafür getroffen. Während in Industriestaaten die öffentlich geführte Technologiediskussion sich mittlerweile meist darum dreht, marktgängige Anwendungen für neue Techniken zu finden, fehlt in Schwellen- und Entwicklungsländern das Geld für den lebensnotwendigen Einsatz der alten. Dazu gehören neben einem effizienten Katastrophen-Warnsystem unter anderem auch Medikamente gegen typische Dritte-Welt-Krankheiten wie Malaria.
Das Seebeben im Indischen Ozean ist bereits die zweite Katastrophe im gerade begonnen Millennium, die die Welt erschüttert hat. Die erste, der Terror-Anschlag auf das World Trade Center war ein geplanter Angriff auf die Zivilisation. Die zweite zeigt wieder einmal brutal deren geographische Grenzen auf.
Der nach dem 11. September 2001 meistgehörte Satz lautete: “Nichts wird nach diesem Tag sein wie zuvor.” Was sich – im schlechten Sinn – denn auch bewahrheitet hat. Nicht nur der Terror islamistischer Fundamentalisten hat die Zivilisation beschädigt. Auch die Reaktionen westlicher Politiker darauf haben Rechtsstaat und internationale Organisationen – ebenfalls Errungenschaften der Zivilisation – in Mitleidenschaft gezogen.
Gegen Erdbeben ist die Menschheit machtlos. Wissenschaft und Technik aber können verhindern, dass daraus Katastrophen entstehen. Genauso wie Hunger und Epidemien verhindert werden könnten. Dass das nicht geschieht, sagt viel über den Entwicklungsstand der Zivilisation.
“Nichts wird nach diesem Tag sein wie zuvor.” Nach dem 26.12.2004 hätte dieser Satz einen ganz anderen Sinn ergeben. Aber da hat man ihn nicht gehört.
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