Die norddeutschen Sommerfrischler (Preiß’n) waren sehr angetan vom als malerisch empfundenen Sozialverhalten der indigenen Bevölkerung (raufen) sowie von deren eigentümlichen Paarungsritualen (fensterln).
Ähnlich wie am schottischen Loch Ness entwickelte sich in diesem touristischen Treibhausklima in den Folgejahren ein fremdenverkehrsförderndes Fabelwesen: der Wolpertinger. In herkömmlichen zoologischen Kategorien gesprochen, handelt es sich dabei um die Bastardisierung von Rebhuhn, Gemse, Felchen und was sonst an Jagd-, Fischerei- und Schlachtabfällen gerade greifbar ist.
Die schönsten Exemplare kann man am Königsee beobachten und rund um Neuschwanstein – in Souvenirshops (Standl), gleich bei den König-Ludwig-Bildern und den Enzianflaschen mit Hirschhorn-Stöpsel.
Allerdings ist Bayern längst nicht mehr nur ein Fremdenverkehrsland, sondern vor allem ein Hightech-Standort, der bis weit über die weiß-blauen Grenzen hinaus ausstrahlt. Zu spüren sein wird dies in zwei Wochen wieder auf dem Messegelände in Hannover, dessen schönste Halle nach der bayerischen Landeshauptstadt benannt ist. Software wird dort in Ein-Liter-Krügen ausgeschenkt.
In den übrigen Hallen kann man sich über neue Devices kundig machen. Glaubt man den Vor-CeBIT-Pressemitteilungen, dann implementieren viele davon eine neue Qualität des Wolpertinger-Paradigmas.
Apples MP3-Player iPod etwa verfügt jetzt über Office-Funktionen. Sonys portable Playstation spielt Filme und Musik ab. Und die Walkmen der koreanischen iRiver empfangen Radio und machen Fotos.
Letztes Jahr war auch noch die österreichische Laks auf der CeBIT. Deren Uhren dienen als MP3-Player und neuerdings als digitales Diktiergerät. Heuer fehlen die Wiener in Hannover. Mal sehen, vielleicht schaffen sie’s im Herbst wenigstens nach München auf die Systems.
Noch phantastischer als Wolpertinger sind ja Handys. Selbst Bayern kommen da oft nicht mehr mit, wie deren Kaiser und bekanntester Werbeträger für die Telekommunikationsindustrie, Franz Beckenbauer, freimütig bekundet: “Ich bin froh, dass ich mit einem Handy telefonieren kann. Alles andere lehne ich ab.”
In Berlin dürfte dieser Anti-Wolp mit einer derartigen Verweigerungshaltung bald nicht einmal mehr sein Auto abstellen können. Dort löst man jetzt nämlich Parkscheine per SMS. Und die Politesse kontrolliert mit dem Fotohandy.
Das Wolpertizing ist ubiquitär. GMX-Nutzer haben diese Woche eine Werbe-Mail erhalten, in denen eine “Kreditkarte auf Guthabenbasis” angepriesen wird. Und wer unterschreibt, bekommt einen DVD-Player.
Das ist halt die Kehrseite des All-in-One-Paradigm: Es ist alles drin, aber manchmal recht eigenartig. Was wohl Otto Graf Lambsdorff, der sich in den 80ern über die Sozialdemokraten und deren Idee einer “nicht rückzahlbaren Zwangsanleihe” nicht mehr einkriegte, zu einer “Kreditkarte auf Guthabenbasis” sagen würde?
Alles wird zusammengeleimt wie bei den Wolpertingern die Gemsenhörner, die Rebhuhnfedern und die Fischflossen. Wer ein Jahr lang mit der Telekom telefoniert, der darf sich die neue Single von Marius Müller-Westernhagen (149 Happy Digits) herunterladen. Und für einen Flug nach Kalifornien mit der Lufthansa gibt’s eine Aktentasche von Hugo Boss (64.000 Meilen).
Eigentlich sind Wolpertinger ja komisch. Was sie selbst allerdings gar nicht so sehen. Jene in Berlin etwa. Die in jüngster Zeit entdeckten Hybriden aus Politiker und Geschäftsmann oder -frau. Die finden ganz normal, was sie so machen.
Der bekannteste dieser Polit-Wolpertinger ist aktuell ein Grüner, Ludger Vollmer. Das heißt, er ist ja eher ein Blasser. Und bekannt ist er nur deshalb, weil sein ehemaliger Chef, Bundesaußenminister Joschka Fischer, in der Öffentlichkeit immer demonstrativ Vollmers Namen nimmt, um einen ministeriellen Erlass näher zu bezeichnen.
Dieser Erlass war für Vollmer geschäftlich nützlich und für Vollmer und Fischer politisch schädlich. Für Vollmer schädlicher als für Fischer. Was daran liegt, dass Fischer vielleicht nicht so geschäftstüchtig wie Vollmer ist, politisch aber auf jeden Fall sehr viel mächtiger.
Besonders viele Wolpertinger hat die FDP. Weil das die Partei der Leistungsträger ist. Deren Bundestagsabgeordnete Ulrike Flach etwa hat ganz locker nebenbei Siemens-Texte für jährlich 60.000 Euro übersetzt. Weniger leistungsorientierte Leute schaffen sowas manchmal kaum hauptberuflich.
Von ihrem Posten als Vorsitzende des Bundestagsbildungsausschusses ist Ulrike Flach deshalb zurückgetreten. Dafür wurde sie aber gleich von ihrer Partei zur forschungspolitischen Sprecherin gewählt.
Der prächtigste freidemokratische Wolp allerdings ist Martin Bangemann. Der war einmal so leistungsfähig, dass er die spanische Telefonica sowohl als EU-Kommissar kontrollieren, als sich auch von ihr anstellen lassen konnte.
Und die SPD hat Leute in ihren Reihen, die, bevor sie einen Managerjob antreten, erst einmal den zugehörigen Konzern in Regierungsfunktion selbst schmieden. So wie der Ex-Staatssekretär Alfred Tacke.
Der edelste dieses vielseitigen neuen Politikertyps ist selbstverständlich Professor Horst Köhler. Der war früher Sparkassen- und ist jetzt Bundespräsident.
Wobei er da manchmal einiges durcheinanderbringt. Jedenfalls kümmert sich der Präsident sehr engagiert darum, die kreditnehmende Wirtschaft bei den Lohnnebenkosten zu entlasten. Einem Chef eines Wirtschaftsverbandes steht sowas gut zu Gesicht. Wenn Rechtsradikale aber zweistellige Wahlergebnisse erzielen, dann sieht der Präsident das locker, weil das ja “ein Signal der Bürger in einer lebhaften, lebendigen Demokratie” ist.
Ach ja, manchmal, da wünscht man sich halt wieder einen Bundespräsidenten wie den Heuss, das alte Rabattgesetz, Telefone, die nur zum Telefonieren da sind, und ein striktes Wolpertinger-Verbot – außerhalb bayerischer Fremdenverkehrsregionen, versteht sich.
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