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Hat die IT ihre aufregendsten Tage schon hinter sich?

Informationstechnologie ist im Bewusstsein der meisten Akteure in dieser Branche etwas, durch dessen Anwendung sich für Unternehmen entscheidende Vorteile erzielen lassen. Produktionszyklen werden besser organisiert und verkürzt, Geschäftsmodelle zum Vorteil der Betreiber radikal verändert, Ressourcen optimiert und rationalisiert.

Als vor fast zwei Jahren der US-Autor Nicholas Carr in einem Artikel der Harvard Business Review die These “IT doesn’t matter” aufstellte, war das Geschrei groß. Er wollte bewusst provozieren, und das gelang ihm auch. Bei führenden Köpfen der Branche stieß die These natürlich auf Ablehnung, Microsoft-Chef Steve Ballmer bezeichnete sie als “hogwash”, zu Deutsch quatsch. Was Carr nicht gerade davon abhielt, seinem Artikel ein Buch hinterher zu schieben und in der allgemeinen Aufregung damit hohe Auflagen zu erzielen.

Setzt man sich mit Carrs These etwas detaillierter auseinander, merkt man schnell, dass sie so viel Aufregung eigentlich gar nicht wert war. Auf den ‘IT-Leiter Tagen’ diese Woche in München hatte man sogar die Gelegenheit, die Predigt aus dem Munde des Propheten selbst zu hören. Informationstechnologie folge den Weg jeder anderen bahnbrechenden Technologie vor ihr, so Carr auf seiner Keynote-Rede, so wie vor ihr die Elektrizität oder das Telefon. Irgendwann wird alles eine selbstverständliche Leistung, die aus irgendeiner Steckdose an der Wand zu beziehen ist.

Dass Informationstechnologie heute etwas komplizierter ist als Strom aus der Steckdose, ist dabei nicht nur den IT-Leitern im Auditorium klar, sondern auch Carr selbst. “IT ist nach wie vor essenziell fürs Geschäft, keine Frage”, sagt Carr. “Doch meine Frage ist eine andere: Ist sie auch essenziell für die Geschäftsstrategie?” Seiner Ansicht nach ist sie das immer seltener. “Solange ein Unternehmen eine Technologie einsetzt, die einzigartig ist und von seinen Konkurrenten nicht leicht kopiert werden kann, bringt sie auch Vorteile”, begründet Carr. Doch je mehr sie zu einem Produkt wird, das allgemein verwendet wird, würden diese Vorteile schwinden.

In welcher Phase sich die Informationstechnologie gerade befindet, ist von Branche zu Branche unterschiedlich. “Für die Finanzindustrie ist IT inzwischen selbstverständlich, da lassen sich kaum noch Wettbewerbsvorteile erzielen”, sagt Carr. Das Gesundheitswesen sei da schon eher in einer früheren Phase, IT sei dort noch nicht allgegenwärtig.

Unabhängig davon aber habe IT ein Stadium erreicht, bei dem deren Nutznießer nicht mehr so sehr nach immer größeren technischen Raffinessen verlangen, sondern dass die IT zuverlässig funktionieren und einfacher zu handhaben sein soll. “An vorderster Front der Innovation zu sein ist riskant, das haben Unternehmensführer mittlerweile erkannt”, sagt Carr. Deswegen sei der Standpunkt der meisten inzwischen, Standardtechnologie so zu nutzen, dass damit der Return on Investment schnell gesichert ist. Und Wettbewerbsvorteile ließen sich dadurch erzielen, dass man mit den Schwächen der Technik besser umgehen könne als die Konkurrenz.

Professor Walter Brenner vom Institut für Wirtschaftsinformatik der Universität St. Gallen setzt nach Nicholas Carr in seinem eigenen Vortrag genau dort an, nämlich am Umgang mit der IT aus Sicht der Unternehmensführung. Er stellt fest, dass es an der Schnittstelle zwischen Management und IT erheblich klemmt, weil man jeweils verschiedene Sprachen spricht und unterschiedliche Auffassungen über die Rolle der IT hat. “Was der CEO oder die Fachabteilung von der IT erwartet, ist Prozessunterstützung, um Geschäftsprozesse zu gestalten”, erklärt Brenner. Was sie von der IT-Abteilung bekomme sei aber meistens nur eine Anwendung.

Das ist laut Brenner mit ein Argument, warum eine stärkere ‘Industrialisierung’ der IT notwendig ist. Damit ist gemeint, dass die Informationstechnologie künftig lernen sollte, in anderen Kategorien zu denken – weg von einer Applikationsorientierung und hin zur Produktorientierung. IT-Abteilungen müssten lernen, den Fachbereichen nicht komplexe Applikationen zu liefern sondern ‘IT-Produkte’, mit denen sich die von der Fachabteilung erwartete Prozessunterstützungsleistung erzielen lasse. Die Qualität eines Prozesses sei schließlich auch die Einheit, über die sich der Erfolg einer Fachabteilung messen lasse.

Doch was genau sind diese IT-Produkte, wie lassen sie sich definieren, zusammenstellen und ausliefern? Mit dieser Fragestellung beschäftigt sich Brenners Institut seit einigen Jahren. “Mit einem IT-Produkt lässt sich beispielsweise an einem Fahrscheinautomaten ein Fahrschein erstellen”, erklärt Brenner. “Es besteht aus mehreren IT-Leistungen, die jeweils die Fahrscheindaten erfassen, den Fahrpreis berechnen und schließlich den Fahrschein ausgeben.”

Definieren kann man ein solches Produkt über verschiedene Parameter. Das wären zum Beispiel eine funktionale Beschreibung, Produkteigenschaften im Sinne von Qualität oder Verfügbarkeit, der Lebenszyklus und dergleichen mehr. Zu diesem Zweck entwirft Brenners Institut Produktkataloge, die IT-Produkte eines Dienstleisters in der Sprache des Kunden erfassen und katalogisieren.

Brenner bedient sich dabei bei etablierten Prozessmodellen wie COBIT oder ITIL, nimmt Module daraus und konstruiert ein Prozessmodell, das nach dem Prinzip der industriellen Fertigung funktioniert: ‘Source, Make, Deliver’. Das wiederum unterscheidet sich radikal vom jetzt allgemein üblichen Modell in der IT, bei dem es heißt: ‘Plan, Build, Run’. Auch die Qualität der IT-Produkte wird laut Brenner eines Tages nach dem in der industriellen Fertigung üblichen ‘Six Sigma’-Verfahren implementiert und gemessen.

Was die Auslieferung und Integration künftiger ‘IT-Produkte’ in größere Infrastrukturen betrifft, so setzt Brenner auf deren Modularität, die sich durch diese Vorgehensweise ergeben soll. “Neue Architekturen werden eine verstärkte Modularisierung in der Informationssystemlandschaft ermöglichen”, sagt er voraus. Nach seinen Informationen bereiten sich Hersteller großer Anwendungs-Suiten wie SAP bereits mit Hochdruck darauf vor. Die neuen Strukturen ihrer Produkte sollen die Integration von Dienstleistungen und Produkten externer Lieferanten leichter machen.

Diese Möglichkeiten werden laut Brenner den Zulieferern solcher Module neue Chancen eröffnen. “Sourcing ist ein Thema, mit dem sich CIOs intensiv auseinandersetzen sollten, auch wenn sie nicht gleich in Richtung Indien schielen müssen”, meint Brenner. Doch genau deswegen sieht er auch die Chancen, die sich die großen indischen Dienstleister wie Infosys, Wipro oder Tata ausrechnen. Sie werden seiner Ansicht nach in der Lage sein, durch ihre enormen Ressourcen schnell und günstig solche IT-Produkte zu liefern.

Silicon-Redaktion

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