Nie war die Zukunft unvorhersehbarer
1984 gelang ihm der Durchbruch auf der literarischen Szene mit seinem Cyberpunk-Klassiker Neuromancer. Seit dem untersucht Science-Fiction-Autor William Gibson die Beziehung zwischen Technologie und Gesellschaft.
silicon: Warum dann nicht über die Zukunft schreiben?
Gibson: Das Problem ist, dass es zurzeit so viele ungewisse Faktoren und offene Variablen gibt. Ich bin mir nicht im Klaren darüber, wie die Zukunft in 10 oder 15 Jahren aussehen wird. Ich glaube, wir befinden uns in einer sehr langen, mehrere Jahrhunderte andauernden Phase eines zunehmend exponentiellen technologiebedingten Wandels. Irgendwann im 18. Jahrhundert haben wir mit dem begonnen, was wir heute Technologie nennen. Und damit veränderten sich die Dinge, veränderte sich die Gesellschaft. Seit dem Zweiten Weltkrieg verläuft diese Entwicklung im wahrsten Sinne des Wortes exponentiell. Was wir heute erleben, ist völlig verwirrend – wir haben überhaupt keine Ahnung, wo wir herauskommen. Wird uns die globale Erwärmung einholen? Ist sie irreparabel? Wird die technologische Zivilisation zusammenbrechen? Wird dies in den nächsten 30 oder 40 Jahren eintreten? Oder werden wir irgendeinen Trick von Vernor Vinge anwenden und zu allem fähig werden? Wird alles prima sein und eitel Freude herrschen? Das ist zumindest eine Möglichkeit.
Das Problem der unmöglichen Vorhersage hat übrigens nicht nur der Science Fiction. Auch für Firmen wird dies immer schwieriger. In den Unternehmensvisionen wird nach wie vor richtig dick aufgetragen. Aber es muss immer schwerer werden, sich hinzustellen und dem Vorstand zu erklären, man wisse, was in 10 Jahren geschehen wird. Da gehört schon echt Mut dazu. Das war vor 10 Jahren noch nicht so ausgeprägt der Fall.
silicon: Was sind Ihrer Meinung nach die großen Themen von Spook Country?
Gibson: Während dieser Tour werde ich sicher von Interviewern erfahren, was die allgemeinen Themen sind. Ich bin bislang noch nicht genug interviewt worden, um Ihnen das sagen zu können. Es spielt in der gleichen Welt wie Mustererkennung (Pattern Recognition, 2003; auf Deutsch 2004 erschienen; Anm. d. Red.). Es tauchen auch einige der Figuren wieder auf, aber sie sind einige Jahre weiter, und die Welt hat sich etwas verändert. Ich vermute, ich will diesen Veränderungen mit dem Roman nachstellen.
silicon: Wie hat die Technologie Ihr Schreiben verändert?
Gibson:Was mich am meisten während Mustererkennung – und auch danach – bewegt hat, ist das wirklich merkwürdige neue Gefühl, dass die Texte direkt mit Inhalten in Google verbunden sind. Es ist, als gäbe es einen unsichtbaren theoretischen Hyperlinktext, der sich aus der Erzählung meines Romans in jede Richtung ausdehnt.
Da gibt es jemanden, der eine Website betreibt, auf der es für jedes einzelne Ding in Spook Country einen Blog-Eintrag und in der Regel auch eine Illustration gibt. Dann hat jemand jede Erwähnung aufgegriffen, zu ihr recherchiert und so etwas wie einen Wikipedia-Artikel dazu geschrieben. Das alles im Format einer Website, die vorgibt, von einem Magazin namens Node zu stammen. Das ist ein imaginäres Magazin in Spook Country und stellt sich im Kontext der Erzählung ebenfalls als imaginär heraus.
Wenn ich jetzt schreibe, habe ich das Gefühl, dass der Text nicht am Ende der Seite zu Ende ist. Mir ist, als ob ich irgendwo Webseiten anlegen und die Menschen durch den Roman zu ihnen führen könnte. Das halte ich für einen interessanten Gedanke. Ich habe tatsächlich damit gespielt, das in Spook Country umzusetzen. Aber ich wusste nicht genug darüber. Heutzutage entwickelt sich alles in Richtung Hypertext.
silicon: Sie haben eine Lesung in Second Life gehalten. Was haben Sie daraus gemacht?
Gibson: Da ging es viel mehr ums Geschäft als um Visionen. Was ich an Second Life interessant finde ist, dass ich jetzt gelegentlich Leute auf der Straße sehe, die direkt aus Second Life entflohen sein könnten. Einige sehen tatsächlich wie Second-Life-Avatare aus. Ich weiß nicht, ob sie schon vorher da waren, oder ob ich sie einfach nicht wahrgenommen habe.