Nationale Biergarten-Dialektik
Auch am tristesten Ort der Welt, in Leinfelden-Echterdingen gibt es einen Biergarten, einen schwäbischen, wie dessen Name ausweist. Er ist eine Heimstatt der Philosophie.
Seine Besucher haben in der stets langen Schlange vorm Ausschank ausgiebig Gelegenheit, über existentielle Fragen nachzudenken, beispielsweise ob eine noch knapper formulierte Kontradiktion als “schwäbischer Biergarten” überhaupt existieren kann. Für reichlich Zeit zur Reflexion sorgt der Schankkellner, der jedes Mal – augenfällig verdutzt – innehält, wenn der Kopf jener Schlange die Frage nach dem Begehr mit “Bier” beantwortet.
In Bayern gilt Bier ob der Beschaffenheit seiner Krone als probate Metapher für überschäumende Lebensfreude. Der Schwabe hingegen kennt nur überschäumende Milch, die auf der heißen Herdplatte übel riechend verbrennt, also kostet, ohne zu nähren.
Um vergleichbar schreckliche Kontradiktionen in Worte zu kleiden, bedarf es derer zumindest drei, “gutes englisches Essen” etwa. Ja, die Welt bewegt sich in Widersprüchen. Und weil das Ende der Durststrecke vorm Ausschank noch immer unerreichbar erscheint, bleibt genügend Zeit, sich auch darüber Gedanken zu machen.
Briten essen seit jeher Black Pudding – Blutwurst – zum Frühstück (These). Daraus ist notwendiger Weise die Antithese zu jedweder Kultur, also auch der Esskultur, entstanden, und das Empire hat im 19. Jahrhundert den Globus mit Kolonialkriegen überzogen.
Gute Soldaten müssen nun mal grimmig sein. Und nichts bildet eine bessere Grundlage dafür als ein British Breakfast.
Inzwischen allerdings sorgen Migranten aus den ehemaligen Kronkolonien dafür – Synthese – dass man sich auch auf der Insel leidlich gut ernähren kann. Württemberg hingegen hat nie Kolonien auf bayerischem Territorium besessen. Und deshalb manifestiert sich heute der größtdenkbare innere Widerspruch im Begriff des schwäbischen Biergartens.
Allenfalls vergleichbar wäre: “ein deutsches Whitepaper”. Das fällt dem nun mehr nicht ganz so Durstigen ein, nachdem er mit einem halben (!) Liter Bier im Steinkrug (!) endlich an seinen Platz zurückgekehrt ist und das unangemessene Trinkgefäß zu einem Viertel geleert hat.
Dafür fehlen einem schlichtweg die Worte, und zwar nicht nur, um so etwas zu schreiben. Schon den Gegenstand auf Deutsch zu benennen, ist unmöglich.
Begriffe von A wie Anfangs- bis Z wie Zäsurreim kennt das Deutsche für die verschiedenen Formen der gebundenen Sprache. Aber es existiert kein gebräuchlicher Terminus für “Whitepaper”.
Vollkommen undenkbar wäre es, ein solches zum Thema Multithreading zu erstellen, ohne Anleihen aus dem Englischen zu nehmen. Die Unmöglichkeit wird schon beim Wort “Thread” deutlich. Man kann heute Dutzende davon auf einen modernen Prozessor legen, aber nicht auf Deutsch drüber schreiben.
Ein Thread ist Teil eines Programms, dessen Code-Basis er sich mit Seinesgleichen teilt, also eine Art roter Faden im Binary-Chaos. Der englische Fachbegriff Thread (wörtlich eben: Faden) stellt somit geradezu eine Allegorie leichtfüßiger Nebenläufigkeit dar.
So unverbogen übersetzt, wird der Begriff aber nicht verwandt. Stattdessen spricht der hiesige Informatiker von “Aktivitätsträger”, was ganz schrecklich klingt.
Ein weiteres Hindernis beim Erstellen eingängig formulierter deutsch-sprachiger Whitepapers bildet die Out-of-Order-Execution. Die gängige Abkürzung dafür lautet: OOO, was ein gar prächtiges Akronym ist: eine Alliteration in Form eines Kürzels.
So schön kann die Technikersprache sein. Der deutsche Informatiker hingegen verwendet die Abkürzung AdR-A (Außer-der-Reihe-Ausführung). Da radebricht man doch lieber.
Das Whitepaper könnte die Königsdisziplin der deutschen Literatur bilden, Gebrauchsprosa im besten Wortsinn. Was schließlich liest sich kurzweiliger als ein Aufsatz, aus dem man etwas über die wirkliche Welt erfährt.
Aber es geht halt nicht. Seine inhärenten Widersprüche zerreißen jedes deutsch-sprachige Whitepaper.
Angesichts der schrecklichen Leere, die inzwischen inwendig vom “Kriegle” (hochdeutsch: Krug) Besitz ergriffen hat, fällt einem dann noch ein furchtbarer Widerspruch ein, einer der sich auch dialektisch nicht auflösen lässt: der deutsche Liberalismus. Am Wochenende fanden ja die Delegiertenversammlungen von gleich zwei politischen Parteien statt. Darüber aber mag man nach nur einem Bier überhaupt nicht nachdenken und reiht sich deshalb erneut in die mittlerweile noch länger gewordene Schlange ein.
Wie sehr bedürfte doch dieses Schäuble-, Lidl- und Telekom-geschädigte Land einer liberalen Partei! Was aber tut jene, die sich so nennt – wenn sie nicht gerade vorwegnimmt, was Schäuble erst plant? – Sie geriert sich wie der militante Arm des Bunds der Steuerzahler. Armes Deutschland!
Eine originär deutsche Erfindung – wie der Computer und das MP3 – wiederum ist die Sozialdemokratie. Der ist mittlerweile fast die Hälfte ihrer Mitglieder abhanden gekommen, einschließlich ihres ehemaligen Vorsitzenden. Ähnliches gab’s schon einmal in der Geschichte.
Einige der Ehemaligen haben dann eine Art SPD 2.0 gegründet. Die 1.0er Version nun hat am Wochenende erneut versprochen, nicht mit der 2.0er zu koalieren.
Wegen der Glaubwürdigkeit. – Widersprüche über Widersprüche, weiß doch inzwischen jeder, dass man in der Politik ein Versprechen dann nicht zu halten braucht, wenn man genügend andere abgegeben und sich so in ebensolche verwickelt hat.
Damit wäre dann das Ende erreicht, wenn auch nicht der Fahnenstange, so doch der Schlange: “Au wenn Sie jetzt no so gugget: a Bier. I brauch’s.”