In der Renaissance etwa wandten sich die Maler dem Diesseits zu, entdeckten dessen Zentralperspektive und hinterließen anschließend der Nachwelt die wunderbaren Bilder von Albrecht Dürer, El Greco und Jacopo Tintoretto. Im Barock hatten die Architekten alle Hände voll zu tun, um für dickwanstige Fürsten entsprechend ausladendende Prachtbauten zu entwerfen. Und in der Klassik schließlich komponierte Ludwig van Beethoven und schrieb Friedrich Schiller dann fürs gemeine Volk im von der französischen Revolution erschütterten Europa.
Die bevorzugte Kunstform des Internetzeitalters wiederum ist die Wirtschaftslyrik, witzig gemeinte Headlines über Neuigkeiten aus der Geschäftswelt. – Mehr Zeit lässt diese Zeit halt nicht, denn sie ist ja Geld.
Seit vorvergangenen Dienstag nun sind Festspielwochen im Cyberspace. Das Thema, an dem sich eine beeindruckende Zahl verkannter Schöngeister misst, lautet: Googles Browser Chrome. 19.969 deutsch- und 19.930 englischsprachige Artikel findet der kulturell Interessierte dazu im Web – natürlich über Google News.
Die Fakten sind eher dürr: Google verdient Geld mit Informationen über die Surfer. Wer sucht, gibt dem Konzern solche Informationen. Wer seine anderen Dienste nutzt, noch mehr. Deshalb verteilt Google einen Browser, womit diese Dienste per Voreinstellung abonniert werden.
Mit der Überschrift “Aus Daten wird man klug” fasst die Rhein Zeitung vom 7. September dieses Geschäftsprinzip zusammen. Schade nur, dass das Sprichwort, von dem sie abgeleitet ist, vom Klug- und nicht vom Reich-Werden handelt.
Für den Leser des Business-Feuilletons sehr viel anregender ist zudem: “Google gewährt ersten Blick auf seinen Browser”, womit der ORF am 2. September den Wettstreit der Dichter eröffnet hat.
Das ist doch Wiener Schmäh, wie man ihn sich vorstellt! Der Leser kann sich während der Lektüre des so überschriebenen Web-Artikels nie ganz sicher sein, ob da die Öffentlichkeitsarbeit eines Unternehmens veräppelt wird, die doch sehr an jene der KPdSU erinnert. Oder ob der Schreiber tatsächlich, beeindruckt von Googles Gunst, in die Tasten gegriffen hat. – Ein typisch österreichisches Changieren zwischen Operette und Kabarett.
Kulturhistorisch äußerst interessant ist auch, was der Spiegel am selben Tag schrieb: “Googles Blitz-Browser begeistert mit radikaler Schlichtheit”. So titelt ein Blatt, das früher einmal Skandale aufdeckte und Minister zu Fall brachte. Der berühmte Spiegel-Stil von einst ist dem modischen Marketing-Sprech gewichen. Ein Zeichen von Verfall und Niedergang.
Mehr von der kulturellen Rückständigkeit der Provinz zeugen hingegen die Kinzigtal-Nachrichten: “Googles Browser im Test – Chrome rockt!” – Was um alles in der Welt, so fragt man sich, hat ein Daten-Abgreifer mit Musik zu tun.
Zu Google fällt einem höchstens The Spider And The Fly von den Stones ein: “I said ‘My, my’ like the spider to the fly ‘Jump right ahead in my web’.” – Das Kinzigtal liegt ja etwas abseits. Vielleicht werden die Stones dort jetzt erst entdeckt.
Sehr ergiebig wiederum ist der Vergleich von Kulturnationen am Thema. “Google: Chrome browser no Trojan horse”, behauptete am 3. September die US-amerikanische Telephony-Online. Da hatte Der Westen aus Nordrhein-Westfalen schon formuliert: “Chrome wird zum ‘Schäuble-Browser'”.
Das ist doch hübsch! Zwar bleibt unklar, wer damit eigentlich verunglimpft werden soll, der Konzern aus dem kalifornischen Mountain View oder der Bundesminister aus dem badischen Gengenbach. Aber das ist egal. Verdient haben’s beide.
Allerdings bedeutet das nicht, dass die gesamte deutschsprachige Presse kritisch ihre Wächterfunktion wahrnehmen würde. Im Gegenteil. Gerade Publikationsformen mit großer Tradition waren eher schlafmützig.
Die Geschichte der Vademekums (Ratgeber) etwa reicht zurück bis ins Mittelalter. Genug Zeit, um zu lernen, dass es Gefahren und Unbill gibt auf dieser Welt, sollte man zumindest meinen.
Der Web-basierte Ratschlag24 allerdings stellte vergangene Woche einen Artikel ins Netz, der überschrieben war mit: “Google Chrome Browser: Schnell mal unerkannt, anonym und inkognito surfen”.
Da kann man doch nur hoffen, dass dieser Ratgeber derartige Überschriften künftig nicht auch für seine Gesundheitstipps wählt. Die Mortalität seiner Leser würde ansonsten drastisch steigen.
Die prächtigste Headline zum Thema in der vergangenen Woche allerdings hatte nichts mit Wirtschaftslyrik zu tun, sondern lautete schlicht: “Bundesamt Warnt Vor Google Chrome”. Mit Versalien! Schön ist das deswegen, weil sie von der zum Wall Street Journal gehörigen Website All Things Digital stammt.
Wenn’s um den Datenschutz bei Google geht, dann reden derzeit Amerikaner deutsch wie ansonsten in IT-Dingen Deutsche englisch. Und beide finden das eher weltmännisch als komisch.
Und wie um das zu bestätigen, hat All Things Digital diese Woche noch einmal nachgezogen und eins draufgesetzt: “Der Google Krome Ist in der Schmutz”. – Klasse! So macht Leitkultur doch Spaß.
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