Das Web, die Welt und Woodstock
Um sich zu vergegenwärtigen, wie sehr das Web doch die Welt verändert, genügt ein Blick auf den Online-Auftritt der gleichnamigen Tageszeitung. Diese war einmal das Presseorgan, dessen Leserschaft nach eigenem Dafürhalten gewährleistete, dass Ordnung in eben dieser Welt herrschte.
Der Welt-Leser war in der Regel männlichen Geschlechts sowie älteren Jahrgangs, trug häufig einen schmalkrempigen Pepitahut und verlieh seinen Argumenten gerne mit dem drohend erhobenen Regenschirm, Marke Knips, Nachdruck. Diese begannen vorzugsweise mit: “Früher…” oder endeten mit “…sollen etwas arbeiten.”
Die Welt und ihre Leserschaft bildeten eine Wagenburg, außerhalb der das Chaos tobte. Oder um es mit den Worten der Knirps-bedrohten Chaoten auszudrücken: “Sex and Drugs and Rock’n Roll”.
Seit geraumer Zeit nun steht Die Welt auch im Netz – mit allem, was dazu gehört: Blogs, Links, Polls und Volltextsuche. Und seitdem ist sie nicht mehr in Ordnung, diese Welt.
Für die Suchfunktion etwa war Anfang dieser Woche aus unerfindlichen Gründen bereits der Begriff “Woodstock” vorgegeben. Das war jenes legendäre Festival von vor 40 Jahren, während dessen viele junge Menschen, von denen die wenigsten wohl jemals Die Welt gelesen hatten, sich an Rock’n Roll erfreuten und jede Menge Sex hatten. Und dass sie auch Drogen konsumierten, darauf lassen Durchsagen in Ton-Dokumenten schließen, womit vor “brauen Pillen” gewarnt wurde, welche “von schlechter Qualität” gewesen sein sollen.
483 Artikel zu Woodstock sind in dem Blatt erschienen. Wie die Welt/Die Welt sich doch verändert!
Überhaupt der Sex! Der, obwohl vom Wesen her anarchisch, scheint, mittlerweile das durchgängige Thema des einstigen publizistischen Ordnungsrufs der Republik zu sein.
Im Berliner Wahlkampf hat etwa eine ältere, politisch ausgemusterte Frau sich über die Grenzen der Schicklichkeit hinaus entblößt: Vera Lengsfeld wirbt – auf einer Collage mit einem Foto von Angela Merkel – mit ausladendem Dekollete und dem Slogan: “Wir haben mehr zu bieten.”
Nirgendwo sonst wird dies derart feinsinnig und offenkundig lustvoll erörtert wie in der Welt. Das Plakat sei “ikonografisch schwer zu bestimmen”, räumt der Welt-Redakteur Eckard Fuhr ein, klopft sich wahrscheinlich dann erst einmal kräftig auf die Schenkel, um schließlich zu dem Schluss zu gelangen: “Der Lengsfeldsche Ansatz ist offenbar ein postfeministischer.”
Der Artikel verlinkt zu einem Foto von Vera Lengsfeld im knappen roten Kleidchen und zu einem Beitrag mit der Überschrift: “Penelope Cruz spielt Monroe, Hepburn und Loren”. Womit bewiesen wäre, dass der Postfeminismus nichts Schlimmes ist. Denn wenn jene Frau etwas von sich zeigt, löst dies Vasopressin-Stürme bei ihren männlichen Fans aus und bringt ihr viel Geld ein. Ein rigider Feminismus hingegen würde die Penelope ruinieren.
Und irgendwie folgt dem ja auch “der Lengsfeldsche Ansatz”. Nur dass der halt weniger auf Vasopressin als aufs Schenkelklopfen setzt.