Das Web, die Welt und Woodstock
Um sich zu vergegenwärtigen, wie sehr das Web doch die Welt verändert, genügt ein Blick auf den Online-Auftritt der gleichnamigen Tageszeitung. Diese war einmal das Presseorgan, dessen Leserschaft nach eigenem Dafürhalten gewährleistete, dass Ordnung in eben dieser Welt herrschte.
“Darf eine Demokratin dekolletiert sein?” fragt sich der intellektuelle Autor dann noch. “Ist es möglich, die weibliche Brust aus der Sphäre des Herrscher- oder des Starkultes in die Demokratie zu überführen?” Und: “Öffnet sie – Vera Lengsfeld – dem Busen nun endlich den Weg in die demokratische Öffentlichkeit?”
Handelte es sich um den Busen von Penelope Cruz, wären den meisten Welt-Lesern demokratie-theoretische Überlegungen wahrscheinlich herzlich gleichgültig, obwohl andere Publikationen aus demselben Verlag diesbezüglich sehr viel konsequenter sind. Aber eigentlich drängen sich doch andere Fragen auf: Ist “der Lengsfeldsche Ansatz” vielleicht eine späte Reverenz an ihren ehemaligen Parteifreund Christian Stöbele, der im selben Wahlkreis kandidiert und es nicht nötig hat, sich im Muscles-Shirt ablichten zu lassen, um gewählt zu werden?
Und: Was ist das eigentlich, was Ihr von der Welt da im Web abzieht? – Ein surrealistisches Happening? Dadaismus? Oder wollt Ihr nur die inzwischen tütelig gewordenen 68er Chaoten sein bisschen veräppeln?
Letzteres läge ja nahe, weil bei Euch Bettina Röhl bloggt, die Tochter von Ulrike Meinhof, die aber scheinbar gar nicht nach ihrer Mutter geraten ist. “Sex und Macht und Politik” ist deren Kolumne überschrieben, illustriert mit einem Foto von Angela Merkel, dem gleichen, das auch Vera Lengsfeld verwandt hat. Dann ist noch Barack Obama zu sehen und Paris Hilton sowie Dita von Teese und schließlich der französische Staatspräsident und seine Gemahlin, wohl weil Nicolas Sarkozy mit Carla Bruni verheiratet ist.
Bettina Röhl ist eine Frau, die es versteht zu verblüffen. Über die ehemaligen Abweichler in der hessischen SPD-Landtagsfraktion, welche sie “die phantastischen Vier” nennt, schreibt sie, die Sozialdemokraten würden sie “wieder einmal öffentlich… hinrichten”. – So stark ist ihr Glaube, dass sie impliziert, man könne Märtyrer gleich mehrfach zu Tode bringen.
Über Karl Marx führt sie aus, er sei “viel schlimmer als Madoff” gewesen. Denn Letztgenannter habe “das Geld nicht vernichtet, sondern es in den Wirtschaftskreislauf wieder eingespeist”.
Sowas müsste einem Tankstellenräuber mal einfallen, er wolle seine Beute ja wieder in den Wirtschaftskreislauf einspeisen. Vielleicht wäre sogar seine Konsumneigung noch höher als jene des Pächters. Dann könnte der Überfall möglicher Weise gar als kleines Konjunkturpaket durchgehen. Wieder stellen sich schwierige Fragen.
Die angestammten Springer-Gegner jedenfalls sind verwirrt. Augenfällig wissen die nicht mehr, wo oben und unten und vor allem wo links und rechts ist, und surfen zur Welt. Noch am Montag war auf deren Website eine Umfrage zu sehen. Danach würden 20 Prozent der Online-Leser CDU wählen. 21 Prozent aber votierten für die Linkspartei. Was ist nur aus der Welt geworden, respektive der gleichnamigen Zeitung?