Dieser Frage ging Dr. Andreas Boes vom Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung e.V. München (ISF) nach. In einem Vortrag auf den XP Days stellte Boes diesen Zusammenhang her: In der Softwareentwicklung sei “eine Industrialisierung neuen Typs” im Gange, die sich gerade auf Agile Methoden stütze.
Der eigentliche Kern jedes Industrialisierungsprozesses ist laut Boes die Objektivierung: Ein Herstellungsprozess, der zuvor auf die individuellen Fähigkeiten und Motive der Beschäftigten angewiesen war, wird nun von den Einzelnen unabhängig, er tritt ihnen “objektiv” gegenüber. Das muss nicht, wie in der klassischen Industrialisierung, in Form eines Fließbandes geschehen, bei dem der Arbeiter sozusagen auf ein auswechselbares Anhängsel der Maschine reduziert wird.
In der Industrialisierung neuen Typs tritt an die Stelle des “laufenden Bandes” die Entwicklung stabiler und robuster Prozesse und intelligenter Standards, mit denen die Unternehmen versuchen, sich unabhängig von den individuellen Beschäftigten zu machen. Anders als in der klassischen Industrialisierung brauchen und nutzen sie die Kreativität, die Subjektivität und die Selbstorganisation etwa ihrer Entwickler für ihre wirtschaftlichen Zwecke, aber eben nicht das einzelne “geniale” Individuum – es wird ersetzbar. Eine Voraussetzung dafür ist es, an das Wissen in den Köpfen der Kreativen überhaupt heranzukommen.
Agile Methoden können laut Boes dazu beitragen – obwohl sie der Intention nach auf etwas ganz anderes zielen, nämlich darauf, Individuen und Interaktionen über Prozesse und Werkzeuge zu stellen. In der kommunikativen Austauschbeziehung zwischen Entwicklern und Teams wird das Wissen jedoch objektiviert, es wird dem ganzen Team zugänglich und nutzbar. So kann es geschehen, dass es zunehmend weniger auf den Einzelnen ankommt – eine Erfahrung, die heute immer mehr Entwickler machen, wie das ISF München in einer Reihe von empirischen Studien gezeigt hat.
Werden Agile Methoden so benutzt und instrumentalisiert, so können sie den Beschäftigten geradezu als Wegbereiter für eine Entwertung ihres Wissens, ihres Expertenstatus und ihrer Stellung im Unternehmen erscheinen – als Gefährdung ihres Beschäftigungsverhältnisses.
Damit aber würde der Grundidee des Agilen Manifests der Boden entzogen, denn wer solche Gefahren befürchtet, wird sich nicht für Agile Methoden engagieren, und dann muss das Konzept scheitern. Laut Boes ergibt sich daraus eine neue Herausforderung für Agile Softwareentwicklung und Extreme Programming: Wie gelingt es, die Stärken des Einzelnen zu realisieren – also die Verbindung von konsequenter Kundenorientierung, Effizienz und menschengerechtem Arbeiten – und dabei der skizzierten Gefahr zu entgehen?
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Können zählt auch weiterhin.
Die Bedeutung agiler Methoden für die Zukunft der Softwareentwicklung kann kaum überschätzt werden. Sie in den Zusammenhang mit den Bemühungen um Industrialisierung zu rücken ist interessant und regt zum Weiterdenken an.
Die im Artikel geäußerte Sorge, der Einzelne würde nicht mehr mitmachen, weil er sein Wissen teilt und sich dadurch überflüssig macht, teile ich allerdings nicht. Auch und gerade in agilen Teams kommt es darauf an, diejenigen dabei zu haben, die ihr Handwerk beherrschen, Problemlösungskompetenz einbringen, Ideen von Kollegen beurteilen können - und nicht zuletzt das im Team besprochene auch noch zuverlässig und effizient umsetzen. Jedes agile Team wird die Könner besonders wertschätzen. Als amorphe Masse austauschbarer "Industriearbeiter" werden agile Teams nicht funktionieren - oder zumindest nicht zuverlässig Spitzenleistungen erbringen. Und gerade das - z.B. in Form einer niedrigen Ausschussquote - war bei der traditionellen Industrialisierung ein wichtiger Nutzen.