Indien: Eine IT-Nation im Aufbruch
Pro Jahr bildet Indien mehr als zehnmal so viel IT-Experten und Ingenieure aus wie Deutschland. Die Aufbruchsstimmung ist überall zu spüren, berichtet silicon.de-Korrespondentin Kriemhilde Klippstätter nach einer Rundreise – aber auch die zunehmende Spaltung des Landes.
Auf den rund 200 Kilometern zwischen Agra – der Stadt mit dem Taj Mahal – und der Hauptstadt Delhi passiert man etwa 20 neue oder im Bau befindliche private Colleges. Sie werben mit den Fächern, die dort unterrichtet werden. In der Mehrzahl steht “Technical Engineering” auf den Plakaten. Indien bildet eine halbe Million Informatiker, Techniker und Ingenieure aus – pro Jahr, Deutschland nur rund 40.000.
Kommunizieren ist billig in Indien, sehr billig sogar. Ich selbst habe mit einem Mobiltelefon ein Inlandsgespräch geführt, das weniger als eine Rupie, also etwa 1,5 Euro-Cent, gekostet hat. Telefonieren nach Europa: Drei Minuten etwa 30 Rupien, rund 50 Cent. Kein Wunder also, dass das Mobiltelefon zur Standardausstattung des modernen Inders gehört, gleich welchen Alters. Die Jugend verfügt oft über mehr als ein Gerät und selbst Ältere jonglieren gekonnt mit den SIM-Karten: Je nachdem, wo sie sich befinden, wird der passende Anbieter herausgesucht.
Die neuen Flughäfen in Mumbai (vormals Bombay) und Delhi sind mit Laptop-Stationen ausgestattet, die zumindest das Aufladen der Batterie erlauben. Wifi-Versuchsprojekte sind von privaten Anbietern ebenfalls am Laufen. Denn die Jugend nutzt den PC ebenso wie das Mobiltelefon. Am veralteten Flughafen in Varanasi (ehemals Benares) konnte ich eine Stunde lang die Sicherheitsüberprüfung des Handgepäcks der Reisenden beobachten. Alle Fluggäste zwischen 20 und 30 Jahren, egal ob Mann oder junge Frau, zeigten ein Notebook vor.
Und der Subkontinent plant großzügig für die Zukunft: Zwischen Mumbai am Meer und der Hauptstadt Delhi entsteht der “Delhi Mumbai Industrial Corridor”. Das gigantische Infrastrukturprojekt, das sich über 1500 Kilometer erstreckt, soll zusätzlich drei Seehäfen und weitere sechs Flughäfen in den Korridor stellen, um das 2-3-4-5-Ziel zu erreichen: Verdoppelung der Beschäftigung, Verdreifachung des industriellen Outputs, Vervierfachung des Exports der Region und das alles innerhalb von fünf Jahren.
Das ist die eine Seite der indischen Medaille. Die Kehrseite liest sich weniger erfreulich. Fast die Hälfte von Indiens Kleinkindern ist unterernährt. Fast ein Drittel der weltweit 150 Millionen unterernährten Kinder unter fünf Jahren lebt auf dem Subkontinent. Das Schlimme daran ist, dass sich trotz der wirtschaftlichen Erfolge der letzten Jahre nichts an der verzweifelten Lage der Jüngsten ändert: Seit 1991 hat sich zwar das Bruttosozialprodukt mehr als verdoppelt, die Quote der Unterernährung sank aber nur um ein paar Prozentpunkte.
Mittlerweile scheint die Schere zwischen mangelhaft und ausreichend ernährten Kindern noch weiter aufzugehen: Kinder unter fünf Jahren in ländlichen Gebieten sind öfter unterernährt als Stadtkinder, Kinder in niedrigen Kasten mehr als solche aus höheren Kasten, Mädchen mehr als Jungen.
Damit ist der indische Subkontinent meilenweit davon entfernt, das Millennium-Entwicklungsziel der Vereinten Nationen – Halbierung der Unterernährung bis 2015 – zu erreichen. Hinzu kommt, dass immer noch über 400 Millionen Inder unterhalb der von der UN festgelegten Armutsgrenze von 1,25 Dollar am Tag ihr Dasein fristen. Das entspricht ungefähr einem Drittel der Gesamtbevölkerung des Landes.
Nicht zu vergessen: Indien ist mit zirka 1,2 Milliarden Einwohner die größte Demokratie der Welt. Böse Zungen behaupten, Indien ist auch das Land mit der höchsten Korruption. Angeblich werden nur 20 Prozent aller Staatsausgaben für das angestrebte Ziel ausgegeben, der große Rest versickert in den Taschen von Politikern auf allen Ebenen, Richtern und sonstigen Machtinhabern. Manche Europäer glauben, dass die Korruptionsrate sogar noch höher liegt und nur zehn Prozent aller Geldmittel für den angestrebten Zweck ausgegeben werden.
Die Zeitungen sind voll mit Berichten über Korruptionsfälle, die Gerichte arbeiten, so scheint es, unter Dauerbelastung eine Schmiergeldaffäre nach der anderen ab. Aber der Sumpf lässt sich bislang nicht austrocknen. Es bleibt abzuwarten, ob vielleicht die erstarkende Mittelschicht dem Spuk ein Ende bereiten kann. Es wäre dem ganzen Land zu wünschen.