Vinton Cerf fordert rasche Einführung von iPv6
Kurz vor dem weltweiten IPv6-Tag am 8. Juni hat für einige Internetgrößen der Countdown bereits begonnen. In Potsdam nahm Internetpionier Vinton Cerf, bekanntermaßen ein Verfechter des neuen Netzstandards IPv6, die Zukunft des Internetprotokolls ins Visier. Er plädierte eindrücklich für mehr Tempo, um die Umstellung zügig voranzutreiben.
Kaum hatte er den Flieger in Berlin verlassen, fand sich Vinton Cerf flugs im Hörsaalgebäude des Hasso-Plattner-Instituts für Softwaresystemtechnik (HPI) in Potsdam wieder. Dort wurde der 67-jährige Vice President und Chief Internet Evangelist von Google, mit dem HPI Fellowship Award ausgezeichnet, nach illustren Persönlichkeiten wie Angela Merkel, Prof. August-Wilhelm Scheer und Prof. Henning Kagermann.
Vinton Cerf ist einer der prägenden Protagonisten aus der ersten Netzgeneration, von der vor allem jene Generation profitiert, die soziale Netzwerke heute so selbstverständlich nutzt wie frühere Technikverwöhnte das Festnetztelefon. Der US-Mathematiker und Informatiker hatte immerhin in den Jahren zwischen 1976 und 1982 gemeinsam mit Dr. Robert Kahn das Internetprotokoll TCP/IP entwickelt.
Das damalige als Defense Advanced Research Projects Agency bezeichnet Vorhaben entstand maßgeblich unter Federführung des amerikanischen Verteidigungsministeriums. Weit spannender als ein historischer Exkurs ist jedoch die aktuelle Fragestellung, welche Richtung das Netz mit seiner überbordenden Adressvielfalt technisch, politisch und in seiner sozialen Ausprägung künftig nehmen wird.
Vinton Cerf wurde mit dem HPI Fellowship Award ausgezeichnet. Quelle: HPI
Technisch gesehen halten manche Experten das neue Internetprotokoll IPv6 für einen etwas überbewerteten Hype, den vor allem die großen Anbieter durchs Internetdorf treiben. Andere Beobachter wiederum fordern vehement dessen rasche Einführung.
Vinton Cerf lässt in seinem Vortrag jedoch erst gar keinen Zweifel aufkommen: Der Experte, der laut eigenen Angaben im Jahr 1962 auch einmal in Deutschland (Stuttgart) studierte, ist aktiv bekennender Fan von IPv6. “Die Macht des Internets liegt im kollaborativen Designprinzip und freien Netzzugang”, lautet sein Credo. Dann erläutert er die Gründe, warum er für einen raschen Umstieg plädiert.
Neue Herausforderungen, denen das bisherige Netzprotokoll IPv4 nicht mehr gerecht werden könne, sei der Trend zu Sensornetzwerken, Smart Grids, mobilen Endgeräten – und schlussendlich eben auch das überbordende Domain-System.
Derzeit befinden sich laut der Adressverwaltungsorganisation IANA das alte Protokoll iPv4 und die neue iPv6 im Parallelbetrieb. Das Auslaufen der Adressen im asiatischen Raum sei bereits voll im Gange, gibt Cerf zu bedenken. Als weitere Motivation für einen raschen Schwenk auf die neue Version macht der Experte aber auch Sicherheitsbedenken aus.
So sieht er als eines der konzeptionellen Hindernisse die anfällige Domain Name System Security (DNSSEC), die als nicht manipulationssicher gelte. Es gebe zudem weitere handfeste Argumente für den zügigen Umstieg, etwa durch intelligente Tools zum Stromsparen und andere zukunftsweisende Innovationen, wie sie beispielsweise durch Smart Grids erst möglich seien.
Den Trend zu sensorbasierten Netzwerken im Smart Home sieht der Experte dabei übrigens aus eigener Erfahrung als einen Treiber für die rasche Einführung des neuen Standards an. Es müsse nämlich unmöglich sein, dass der Hacker von nebenan die Haussteuerung neu konfigurieren könne. Ob derartige Eingriffe von außen auf Basis des neuen Protokolls tatsächlich ausgeschlossen sind, lässt der Chefvisionär von Google jedoch offen.
Cerf macht den Trend ohnehin an der allgemeinen Entwicklung fest. Neue Applikationen wie iChat oder Skype, Twitter und Webex, sie liefern laut dem Internetexperten genügend Gründe, die eine große Bandbreite und hohe Prozesspower erforderten, die nur der neue Standard IPv6 liefern könne. Und natürlich erörterte die Internetlegende in Potsdam auch die Netzzukunft als Vertreter von Google.
Was also hätte der Suchmaschinengigant von IPv6? Eine Vielzahl von Anwendungen wie Google Moon, Google Mars und Google Sky seien deutlich besser zu nutzen, so Cerf weiter. Ebenso gelte dies für den Internetbrowser Google Chrome oder das mobile Betriebssystem Android. “Schaut man sich allein die Zahl der Downloads auf Youtube an, so wird die Relevanz der Umstellung auf iPv6 mehr als deutlich”, bilanziert Vinton Cerf.
Weitere zukunftsweisende Anwendungen wie Google Googles trügen außerdem dazu bei, Objekte in innovativer Weise zu analysieren, was letztlich eine neue leistungsfähige Netzarchitektur erfordere. Am Ende seines Vortrags kommt der Mathematiker schließlich auf sein Lieblingsthema zu sprechen, das er frei übersetzt als interplanetarischen Erkundungstrip bezeichnet.
Damit gemeint ist allerdings keineswegs die wenig realistische Besiedlung von entfernten Galaxien, wie dem Planeten Mars durch die Erdbewohner. Angesichts der drastischen Sparmaßnahmen im US-Raumfahrtprogramm sind ohnehin Zweifel an einer kurzfristig anberaumten größeren Weltraum- oder gar Marsmission angebracht.
Vielmehr solle die Menschheit, so Cerf weiter, die große Herausforderung der künftigen Netzentwicklung zum Anlass nehmen, eine zukunftsweisende Internetkommunikation zu entwickeln, die alte Wahrnehmungsmuster verlasse und bisherige Vorstellungsgrenzen sprenge. Was könnte damit gemeint sein?
Immerhin gibt es für diese Vision bereits einen Namen: Die von Cerf als Interplanetary Internet “InterPlaNet” bezeichnete virtuelle Erkundungsmission dient ihm nicht nur als symbolisches Leitbild für ebenso leistungsfähige wie sichere Internetarchitekturen.
Bevor Vinton Cerf jedoch allzu sehr ins Esoterische abgleitet, wirbt er lieber anhand von technologischen Argumenten für IPv6: Die Paketvermittlung beim neuen Standard zeige die Vorteile, wie die neue Netzgeneration künftig arbeiten werde, fasst der visionäre Vordenker zusammen. Und dazu gehören laut dem Experten eben jene wegweisenden Elemente wie eine Langstreckenarchitektur auf Basis von RFC 4848.
Auch das satellitengestützte amerikanische Kommunikationssystem TDRSS sei eine wertvolle Blaupause, ebenso wie das “In-Space-Routing” der amerikanischen Weltraumbehörde NASA. Und abschließend nennt Vinton Cerf noch einen letzten handfesten Grund für die möglichst rasche Umstellung: Nämlich möglichst störungs- und latenzfreie Protokolle.
All diese Argumente sollen mit Hilfe der neuen Generation IPv6 nun auch die Unternehmen und Nutzer von der Dringlichkeit des Umstiegs überzeugen. Zum Stichtag am 8. Juni anlässlich des weltweiten IPv6-Tages wird sich zeigen, wie rasch sich ein derart visionäres Leitbild in konkrete Vorhaben ummünzen lässt. Denn nicht jeder Experte mag den in der Initiative versammelten Internetgrößen wie Google, Facebook, Yahoo oder Limelight Networks ohne weiteres nachfolgen. Dazu sind die Blickwinkel der großen und der kleineren Unternehmen auf die neue Internetwelt doch zu unterschiedlich.