Wie die Neue Osnabrücker Zeitung meldete, hat die EU “ein Verfahren gegen Deutschland eingeleitet, weil die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung bisher nicht umgesetzt ist”. Die EU-Richtlinie verpflichtet dazu, Telefon- und Internetdaten für sechs Monate anlasslos zu speichern. Das Bundesverfassungsgericht hatte die deutsche Regelung im März 2010 jedoch gekippt, da sie gegen das Grundgesetz verstieß. Zu den Klägern gehörte auch die heutige Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP). Das Bundesjustizministerium hat den Zeitungsbericht bislang nicht kommentiert.
Leutheusser-Schnarrenberger zeichnet jetzt für die Neuregelung verantwortlich und hatte sich zunächst für das Quick-Freeze-Verfahren ausgesprochen, bei dem Verbindungsdaten nur bei konkretem Verdacht “eingefroren” werden. Der Zugriff soll dann per Antrag möglich sein. “Sobald der Polizist einen Verdacht auf eine Straftat hat, kann er einen Sicherungsantrag stellen”, sagte Leutheusser-Schnarrenberger im Februar 2010 gegenüber der Süddeutschen Zeitung. “Dann wird das festgehalten, was an Daten bei den Telekommunikationsunternehmen vorhanden ist.” Ein Sicherungsantrag sei an relativ geringe Voraussetzungen geknüpft. Für den Zugriff benötige man den Beschluss eines Gerichtes, der einen begründeten Verdacht voraussetze.
Anfang Juni legte Leutheusser-Schnarrenberger einen Gesetzentwurf vor – und akzeptierte dabei erstmals eine verdachtsunabhängige Speicherung von Kommunikationsdaten. Der Gesetzentwurf sieht vor, dass IP-Adressen ohne Anlass sieben Tage lang automatisch gespeichert werden. Auf diese Daten hätten dann Polizei und Staatsanwaltschaft Zugriff – “ohne größere Hürden”, wie Datenschützer von Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung und Campact meinen.
In Kombination mit den Daten der Betreiber von Webseiten und anderer Dienste im Internet ließe sich damit nahezu die komplette Internetkommunikation rückverfolgen, sagen die Datenschützer. “Wie leicht sich Kommunikationsdaten missbrauchen lassen hat sich gerade in Dresden gezeigt”, so Fritz Mielert von Campact. “Dort wurden bei einer Anti-NPD-Demonstration völlig unverhältnismäßig 138.000 Mobilfunkverbindungen von Bürgern ausgespäht, darunter auch Anwohner und Passanten. Gegen solche Praktiken muss ein Riegel vorgeschoben werden.”
“Die Bundesjustizministerin hat mit ihrem Gesetzentwurf unnötigerweise dem Druck der Sicherheitspolitiker nachgegeben”, kritisierte der Netzaktivist padeluun vom AK Vorrat. “Da immer mehr Kommunikation IP-basiert abläuft und immer mehr Menschen mit Smartphones dauerhaft online sind, ist dies ein weiterer Schritt zum gläsernen Menschen.” Leutheusser-Schnarrenberger verlasse mit Rücksicht auf die Koalition ihre frühere Position, für die sie vor das Bundesverfassungsgericht gezogen war. Die Datenschützer treffen heute Leutheusser-Schnarrenberger in Berlin und übergeben einen Appell mit 57.788 Unterschriften “gegen die Wiedereinführung der Überwachungsmaßnahme”.
Das Thema steht heute zudem auf der Tagesordnung der Innenministerkonferenz in Frankfurt am Main. Offenbar wollen vor allem konservativ regierte Länder die Speicherung von Vorratsdaten wieder einführen. Aus Sicht des Verbandes der deutschen Internetwirtschaft eco fehlt bei der Diskussion ein Aspekt: Die Länder setzten sich für die Vorratsdatenspeicherung ein, seien aber nicht bereit, die daraus entstehenden Kosten zu tragen. Die Anschaffungs- und Betriebskosten für die TK-Unternehmen seien erheblich: Bereits als 2007 das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung verabschiedet wurde, musste die Internetindustrie die Kosten für den Aufbau der Infrastruktur tragen. Bei einer Neueinführung würde es zu erneuten Kosten kommen, fürchtet eco.
“Der Wunsch nach Wiedereinführung ist rational nicht nachvollziehbar”, sagte Professor Michael Rotert, Vorstandsvorsitzender von eco. Wenn die Innenminister die Vorratsdatenspeicherung bezahlen müssten, würden sie als erstes darüber nachdenken, ob sie eine solche wirklich brauchen. “Aber auch der Bund traut sich seit Jahren nicht, die Kostenerstattung durch die Länder gesetzlich zu verankern, weil er die Reaktion der Länder fürchtet. Zweitens würden sich die Innenpolitiker auf die wirklich notwendigen Maßnahmen zur Verbrechensbekämpfung konzentrieren. Wenn wir so weit in der politischen Diskussion wären, wäre den Bürgern schon sehr geholfen.”
Hinzu komme dass der Nutzen der Vorratsdatenspeicherung “in keinster Weise” nachgewiesen ist. Das habe das BKA unlängst mit im Jahr 2010 erhobenen Zahlen belegt. Lediglich bei unter einem Prozent der Ermittlungen wurden demnach Internet-Verbindungsdaten herangezogen.
Gegenwärtig arbeite die EU-Kommission an einer umfassenden Evaluierung der zu Grunde liegenden EU-Richtlinie 2006/24 EG. Es sei daher aus Sicht von eco wichtig, diesen Prozess in Brüssel zu begleiten und abzuwarten. Ein nationaler Alleingang, wie ihn die Innenminister der Länder forderten, führe zu Rechtsunsicherheit und Fehlinvestitionen.
Auch Leutheusser-Schnarrenberger hatte gegenüber der Zeitschrift des Bayerischen Journalistenverbands (Ausgabe 3/2011, Seite 12-13) darauf hinwiesen, dass die EU-Kommission Änderungen der geltenden Richtlinie in Aussicht gestellt habe. “Wir können in Deutschland nicht vorzeitig etwas regeln, was dann aus europäischer Sicht erneut zu ändern wäre.” Zumal stehe noch die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zur Klage Irlands zur grundsätzlichen Zulässigkeit der Vorratsdatenspeicherung an.
Die verfassungswidrige alte Vorratsdatenspeicherung sei kein Weg für die Zukunft, sagte Leutheusser-Schnarrenberger. “Als Alternative habe ich auf der Basis des FDP-Konzeptes die anlassbezogene Sicherung von Daten vorgeschlagen, die ohnehin bei den Dienste-Anbietern zu Abrechnungszwecken vorhanden sind.” Auf diese Daten könne man bei einem konkreten Verdacht mit einer Anordnung zurückgreifen. “Wir wollen versuchen, von der anlasslosen, umfassenden Vorratsdatenspeicherung hin zu einer anlassbezogenen Sicherung von Daten zu kommen.” Aber hier bestehe noch Diskussionsbedarf.
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