silicon.de: Herr Schmidt, für viele Unternehmen ist Linux auf dem Desktop noch immer ein Tabu-Thema, der Marktanteil von Linux-Desktops liegt bei etwa einem Prozent. Macht es Ihnen da nicht ein bisschen Sorge, dass Sie als Unternehmen vollständig auf Ubuntu-Desktops setzen?
Schmidt: Wir setzen 10.000 Linux-Desktops ein, davon ca. 7500 mit einem fest definierten Funktionsumfang. Der erste Linux-Einsatz erfolgte im Jahr 2001. Da eine Killer-Software, die einen anderen Desktop erfordert, momentan nicht in Sicht ist, haben wir mit unserer hochintegrierten Lösung aktuell keinen Anlass zur Sorge. Mit dem Auftreten von Netbooks, Tablets und Smartphones jenseits des klassischen Desktops verbreiten sich auch andere Unix-Betriebssysteme wie Apples iOS oder Googles Android mit ihren eigenen Webbrowsern immer mehr im kommerziellen Markt und sorgen so für die ausreichende Einhaltung von Standards wie HTML5.
silicon.de: Verwenden Sie privat ebenfalls Linux auf dem Desktop?
Schmidt: Privat nicht, aber auf meinem beruflichen Laptop.
silicon.de: Was könnten die Linux-Entwickler denn Ihrer Meinung besser machen?
Schmidt: In der Open-Source-Community werden des Öfteren verschiedene Wege beziehungsweise Lösungen für ein und dieselbe Aufgabenstellung beschritten, gerade im kommerziellen Umfeld entstehen so unnötige Projektrisiken durch die Gefahr auf das “falsche Pferd” zu setzen. Zentrale Konfiguration und Aktualisierung von Software werden oft vernachlässigt. Die Verfügbarkeit von stabilen, kompatiblen Schnittstellen zum Beispiel beim Linux-Desktop ist besonders für kommerzielle Software-Lieferanten wichtig, steht aber häufig nicht im Fokus der Entwickler. Die Kommunikation mit Endanwendern wird leider zu selten gesucht, obwohl auch die Zufriedenheit von Anwendern ein positives Feedback für den Entwickler sein kann – jenseits der Meriten aus der Entwicklergemeinde.
silicon.de: Hatten Sie schon Gelegenheit, sich mit Google Chrome auseinanderzusetzen und denken Sie, dass sich dadurch die Zahl der Linux-Nutzer signifikant steigern lässt?
Schmidt: Google Chrome wird zwar in einigen Entwicklungsprojekten benötigt, gegenwärtig lassen sich allerdings keine großen Vorteile durch den Einsatz von Chrome erkennen. Günstig ist auf jeden Fall die Konkurrenz gegenüber dem Internet Explorer durch Firefox, Opera und Apple (WebKit) – dadurch werden viele Anbieter kommerzieller Software in Schwierigkeiten kommen, die bisher nur auf den Internet Explorer gesetzt haben.
silicon.de: Im Backend ist ja Linux deutlich häufiger anzutreffen, setzen Sie hier auch auf quelloffene Lösungen?
Schmidt: Wir setzen hier sowohl auf quelloffene Lösungen als auch auf kommerzielle Produkte. Operative Daten werden hauptsächlich mit IBM-Produkten verarbeitet. Außer AIX und z/OS setzen wir auf eine Red Hat-basierte Serverlandschaft. Auch Microsoft-Produkte lassen sich nicht vermeiden, werden allerdings nicht zum Betrieb der strategischen eigenentwickelten Anwendungen verwendet.
silicon.de: Und welche Produkte verwenden Sie?
Schmidt: Im Backend RedHat Enterprise Linux, Apache WebServer, Squid Webproxies, Alfresco, Tomcat, MySQL, Postgres und etwa 2500 Asterisk Telefonanlagen. Diverse Applikationsframeworks im JEE-Umfeld.
Auf dem Desktop (Ubuntu LTS-Release 10.04.2) besteht die Kernsoftware aus folgenden Produkten: IBM Lotus Notes + Sametime, OpenOffice, X3270, IBM HostOnDemand, Adobe Reader, Freemind, Firefox Browser. Dazu gibt es noch kleine Hilfsmittel und den Zugriff auf File- und Printserver. Basierend auf Oracles Java 6 sind Anwendungen zum Zugriff auf das Dokumentarchiv und die zentrale Anwendung für das operative Geschäft (LAS) im Einsatz. Sonderanwendungen werden über Terminalserver angeboten.
In der Softwareentwicklung finden sich viele Open-Source-Produkte (Eclipse), zentral hierbei sind die Produkte von IBM Rational und Server aus der WebSphere-Familie.
silicon.de: Würden Sie sich denn als Überzeugungstäter bezeichnen, sind Sie ein überzeugter Open-Source-Jünger, oder kommt es Ihnen in erster Linie auf die Lösung an?
Schmidt: Die Lösung steht im Vordergrund, natürlich macht es auch Spaß eine kostengünstige Lösung zu betreiben, die durch eine hohe Integration aller Funktionen auch dem nicht technikaffinen Anwender die Möglichkeit bietet, sich in einem komplexen DV-Umfeld (Betrieb in unterschiedlichen Einsatzszenarien, insbesondere 3G Mobilfunk, Systemmanagement) sicher zu bewegen. In dieser Strategie setzen wir seit 1998 verstärkt NCs ein, die seit 2001 unter Linux betrieben werden.
silicon.de: Das Limux-Projekt in München, einst ein gefeiertes Projekt, schleppt sich dahin, Wien ist mit der Open-Source-Strategie gescheitert, in der Schweiz müssen IT-Projekte schon gar nicht mehr ausgeschrieben werden, wenn es dabei um Desktop-Technologien geht. Und das Außenministerium hat sich ebenfalls von Linux verabschiedet. Was macht die LVM Versicherung anders? Warum klappt es hier mit Open-Source, wo andere in ernsthafte Probleme hineinlaufen?
Schmidt: Von zentraler Bedeutung ist die Kenntnis der Arbeitsabläufe der Benutzer. Die LVM Versicherung ist mit circa 150 Software-Produkten im Warenkorb hier sehr gut aufgestellt und hat jahrelange Erfahrung mit dem Einsatz von Linux-Systemen auf dem Desktop. Von der Pflege einer eigenen Distribution haben wir uns schon vor Jahren verabschiedet. Die Kernkompetenzen liegen bei der LVM in der Integration der Systemkomponenten, nicht in der Treiberprogrammierung. Hier nutzen wir kommerzielle Unterstützung für Ubuntu durch Canonical.
Das spezielle Szenario der LVM Versicherung bietet die Möglichkeit der Kontrolle aller eingesetzten Hard- und Software-Komponenten – von einzelnen Peripheriegeräten abgesehen. Dieses betrifft insbesondere unsere always-online-Lösung für den Außendienst, mit entsprechend optimierter Anbindung über Mobilfunk. Eine Lösung von der Stange auch für dieses Szenario gibt es nicht, sondern diese wird erst durch die Expertise der Projektmitarbeiter möglich – zum Beispiel mit dem Einsatz von Smart Cards zur Realisierung eines Single Sign-On (SSO) von der Absicherung der Anmeldung über Festplattenverschlüsselung bis zur VPN-Unterstützung. Durch Open Source kann dabei auch an Stellen eingegriffen werden, die in kommerziellen Systemen nicht veränderbar sind – manchmal sowohl Segen als auch Fluch.
silicon.de: Wie klappt die Kommunikation mit der Außenwelt, mit externen Partnern zum Beispiel. Haben Sie Probleme bei der Kompatibilität von Dokumenten?
Schmidt: Generell ist die mangelnde Kompatibilität von Dokumenten ein Problem. Die Komplexität der Dokumente ist im Allgemeinen nicht die Herausforderung – in diesem Fall setzen wir gegebenenfalls die Microsoft-Produkte ein. Viele Mitarbeiter unterstützen uns aber tatkräftig durch den Einsatz der OpenDocument-Formate und kommen damit im alltäglichen Geschäft gut zurecht. Gemeinsame Bearbeitung von Dokumenten in der Cloud könnte hier vielleicht die Zukunft sein, aber den klassischen Controller kann man damit natürlich nicht glücklich machen.
silicon.de: Wie sieht es denn mit der Akzeptanz im Haus aus: Bekommen Sie nicht häufiger zu hören, dass zum Beispiel die Buchhaltung doch lieber einen Windows-Rechner hätte, weil ein spezielles Programm eben nur auf Windows läuft?
Schmidt: Auch die Buchhaltung kommt durchaus mit einem übersichtlichen Anwendungsumfang aus, trotzdem setzen wir in den Bereichen Windows-Systeme ein, in denen die Akzeptanz nachvollziehbar leiden würde. Viele Mitarbeiter nutzen die Angebote der LVM zum Homeoffice intensiv, dadurch ist in der Breite das Verständnis für die Vorteile von virtualisierten Lösungen gegeben.
silicon.de: Aus der Tatsache, dass Sie jetzt 3000 Ubuntu-Desktops einführen, lässt sich auch herauslesen, dass Sie das Management überzeugen konnten, eine Open-Source-Lösung einzusetzen. Wie ist Ihnen das gelungen? Spielt da die Kostenfrage eine Rolle?
Schmidt: Open-Source-Lösungen mussten nicht aktuell eingeführt werden, sondern gehören ebenso wie die Nutzung von Standards schon seit Jahren zu den erklärten strategischen Zielen der IT der LVM. Kostenfragen spielen eine nicht untergeordnete Rolle, sind aber nicht die treibende Kraft bei der Weiterentwicklung unserer Systeme, eher Verfügbarkeit und Zufriedenheit der Anwender mit der Gesamtlösung.
silicon.de: Arbeiten die Vorstände auch mit einem Linux-Desktop?
Schmidt: Die Vorstände arbeiten eher mit Linux als die Sekretariate. Die Office-Funktionalität steht hier sehr im Vordergrund und Virtualisierungen auf dem Desktop (zum Beispiel durch VirtualBox oder Crossover-Office) sind nicht so einfach handhabbar oder stabil, wie das erforderlich wäre.
silicon.de: Haben Sie schon einmal kalkuliert, was die LVM Versicherung eine Windows-Landschaft gekostet hätte, können Sie es in etwa einschätzen, was Sie dadurch einsparen?
Schmidt: Dies ist aktuell nicht kalkuliert worden. Betrachtet man die 7500 Systeme, die nur Lotus Notes als lizenzpflichtige Software installiert haben, so lässt sich natürlich schon eine nicht unbeträchtliche Einsparung gegenüber dem Einsatz von Windows 7 mit Office 2010 abschätzen.
silicon.de: Ist die Einführung an einen bestimmten Prozess gebunden?
Schmidt: Grundsätzlich basieren die Serviceprozesse der LVM auf dem ITIL-Modell. Die Nutzung stringenter Prozesse zur Modifikation von Systemen und Software ist ein weiterer wichtiger Erfolgsfaktor, der ein stabiles System auf dem Desktop ermöglicht. Ein gut funktionierendes zentrales Management der eingesetzten Systeme mit der Unterstützung von Testern, Piloten und der Produktion ist unabdingbar und ermöglicht den geplanten Rollout.
silicon.de: Herr Schmidt, wir danken für das Gespräch.
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Projekt LiMux im Plan
Auch Fragesteller können Meinungen erzeugen: München geht nicht schleppend voran. Gemäss den Zielen, die sich die Landeshauptstadt München gesetzt hat, liegt sie derzeit voll im Plan. Gleichwohl geht München seinen eigenen Weg mit der eigenen Geschwindigkeit: Qualität vor Zeit. Eine Landeshauptstadt mit derzeit noch 21 IT Abteilungen (keine Standardisierung), 15.000 PC Arbeitsplätzen aber Abhängigkeiten zu mehreren ITK Anwendungen, die weit darüber liegen, mit rund 400 Fachverfahren und einer unkonsolidierten Datenstruktur größtenteils auf MS Windows weist eine ungleich größere Komplexität auf als die LVM. Fakt ist: alle 15.000 Mitarbeiter arbeiten mit freier Software (OpenOffice 3.2.1), 6.700 Desktops sind mit einem Ubuntu 804 oder 10.4 ausgestattet (am Jahresende werden es über 8.500 sein) und 2013 wird alles in den Betrieb übergehen. Dieser Betrieb erfolgt in einem Eigenbetrieb: standardsieiert, konsolidiert, automatisiert - eben frei und unabhängig. Schauen Sie einfach hier rein: http://www.muenchen.de oder http://www.it-muenchen-blog.de. Viel Spaß
Von zentraler Bedeutung ist die Kenntnis der Arbeitsabläufe der Benutzer!
Das ist leider immer wieder ein Knackpunkt, wenn man die Leute nicht vorher mit in das Boot nimmt, dann hat man schon verloren. Das gilt überall, siehe auch Stuttgart21.
OpenSource-Software entsteht aus dem Bedarf. Also ein Programmierer entwickelt etwas, um ein Problem zu lösen. Die Bedienbarkeit des fertigen Produktes liegt allerdings nicht im Fokus. Durch die quelloffene Software hat der Kunde allerdings alle Freiheiten zur Verfügung. Künstliche Lizenzeinschränkungen gibt es bei freier Software nicht.
Proprietäre-Software entsteht oft durch Anregung der Marketingabteilung. Dort geht es im wesentlichen im Gewinnmaximierung. Auch hier muss die Bedienbarkeit oft hinten anstehen. Durch diese Zwänge entsteht allerdings ein großer Markt. Die Vertriebspartner können neben den Lizenzen umfangreiche Dienstleistungen anbieten. Schulungscenter profitieren von den häufigen Produktwechseln. Sie sind eben auf Produkttraining und nicht unabhängiges IT-Training eingerichtet.
Egal was man einsetzt: Wichtig ist eine Sorgfältige Planung und Mut mal über den Tellerrand zu schauen.