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Telefonieren im neuen Jahr

Also: Am 26. Oktober 1861 hält Johann Philipp Reis vor dem Physikalischen Verein in Frankfurt einen Vortrag mit dem schönen Titel: “Über die Fortpflanzung von Tönen auf beliebige Entfernungen durch Vermittlung des galvanischen Stroms”. Die demonstriert er, indem er eine Wursthaut, ein Stück Darm, zum Schwingen bringt. Eine eigentlich recht hübsche Erfindung!

Ihre Weiterentwicklung verläuft denn auch über viele Jahrzehnte hinweg sozial äußerst verträglich. Damit der Apparat dem Menschen nicht gefährlich werden kann, wird er an die Leine (englisch: line) gelegt.

Und um beim Telefonieren ihre Privatsphäre zu schützen und um andere nicht mit selbiger zu behelligen, ziehen sich die Leute bis weit in das vergangene Jahrhundert hinein in toilettenartige Kabinen zurück, oder sie entledigen sich dessen, was sie fernmündlich zu übermitteln haben, in geschlossenen Räumen wie Büros und Wohnungen.

Am 21. September 1983 aber stellt Motorola das erste Mobiltelefon vor. Seitdem verrichten die Leute ihre kommunikative Notdurft in aller Öffentlichkeit. Als Ausdruck historischer Gerechtigkeit kann deshalb betrachtet werden, dass Google im vergangenen Jahr die selbständige Existenz dieser unsäglichen Firma beendet.

Um die Jahrtausendwende herum dann stört sich die Politik an der verbliebenen Privatsphäre beim Telefonieren. Am 13. August 2001 fordert der baden-württembergische Polizeichef Erwin Hetger die Vorratsdatenspeicherung.

Und die EU-Innenminister, die manchmal halt wirklich für jeden Blödsinn zu haben sind, beschließen am 21. Februar 2006 eine entsprechende Richtlinie, die der Bundestag am 9. November 2007 in nationales Recht umsetzt.

Am 2. März 2010 schließlich kommt das Bundesverfassungsgericht ins Spiel. Es hat in Deutschland die Funktion eines historischen Gedächtnisses: Es erinnert gelegentlich daran, dass hierzulande das Grundgesetz gilt und erklärt deswegen die Vorschriften zur Vorratsdatenspeicherung für verfassungswidrig.

Allerdings sind die Richter nicht sonderlich mutig. Nicht gegen das Speichern von mehreren Terabyte an persönlichen Daten erheben sie Einwände, sondern nur gegen den leichten Zugriff darauf.

Trotzdem läuft am 27. Dezember 2011 die Frist für die Umsetzung der EU-Richtlinie ab. – Dem Land drohen Strafzahlungen von einer Million Euro täglich.

Im Jahr darauf entwickelt das Telefon eine ungeahnte ökonomische Wirkung. Am… Januar 2012 tritt Bundespräsident Christian Wulff zurück.

Eigentlich schade um einen Mann mit solchen Talenten. Mitten in der Eurokrise hat er sich in finanziellen Dingen als äußerst findig erwiesen. Und mit Immobilienkrediten kennt er sich besser aus als jede amerikanische Großbank. Aber er hat halt mit dem Anrufbeantworter vom Bild-Chefredakteur telefoniert.

Nachdem sowas nun schon zum zweiten Mal passiert, beschließt der Bundestag mit Zwei-Drittel-Mehrheit das Amt abzuschaffen und die freiwerdenden Mittel für die EU-Strafzahlungen zu verwenden. Der Rest wird aus der Portokasse bestritten.

In den folgenden Wochen gerät die so tapfere Bild-Zeitung in immer größere Turbulenzen. Sie kann den Verlust von gleich zwei Spitzenpolitikern mit blonden Gattinnen innerhalb nur weniger Monate nicht verkraften, und ihr gehen die Geschichten aus. Zur Jahresmitte wird das Blatt eingestellt.

Die Zeitungslandschaft wird seriös. Und in der Folge erfährt der Medienstandort Deutschland einen gewaltigen Aufschwung.

Hinzu kommen die wirtschaftlichen Auswirkungen des stets trotzig entrichteten EU-Bußgelds auf die hiesige ITK-Branche. “Privacy made in Germany” wird zum Exportschlager.

Deutschland entwickelt sich zum Zentrum der mittlerweile so genannten “Really New Economy”. Google, Facebook und Apple verlegen ihre Konzernzentralen hierher und lassen Software und Rechenzentren vom Ältestenrat des Chaos Computer Clubs zertifizieren.

In ihrer Weihnachtsansprache erklärt die vormalige Kanzlerin, jetzt Vizekanzlerin, die nach der Auflösung der FDP und den fälligen Neuwahlen eine große Koalition mit der Piratenpartei unter Führung von deren neuer Vorsitzenden Sabine Leutheusser-Schnarrenberger eingegangen ist, dass die tägliche Überweisung an Brüssel eine “Investition in die Zukunft Deutschlands” sei, welches sich “auf einem guten Wege” befinde.

So, Schluss für diesmal. Das Telefon läutet. Das ist das Üble an diesem Apparat: Immer wenn man was Nettes träumt, dann klingelt er.

Silicon-Redaktion

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