Henning Kagermann, Ex-Vorstandssprecher von SAP, Wolf-Dieter Lukas, BMBF-Vertreter, und Wolfgang Wahlster, Chef des DFKI, haben ihre Position in einem Artikel für die VDI-Nachrichten dargelegt. Sie konstatieren bislang drei industrielle Revolutionen und den kommenden Paradigmenwechsel:

Erste industrielle Revolution Ab Ende des 18. Jahrhunderts Einführung mechanischer Produktionsanlagen
Zweite industrielle Revolution Ab Beginn des 20. Jahrhunderts Arbeitsteilige Massenproduktion von Gütern mit Hilfe elektrischer Energie
Dritte industrielle Revolution Ab Mitte der 70er Jahre Automatisierung von Produktionsprozessen durch den Einsatz von Elektronik und IT
Vierte industrielle Revolution Ab 2020 Autonome Produkte und Entscheidungsprozesse steuern Wertschöpfungsnetzwerke in nahezu Echtzeit

Die Technologie, die der vierten industriellen Revolution zum Durchbruch verhelfen wird, heißt demnach Cyber-Physische Systeme. Der Wortbestandteil ‘Physisch’ steht dabei für ein Produkt. ‘Cyber’ bedeutet, dass diese Produkte mit anderen Produkten und mit dem Internet vernetzt sind. Cyber-Physische Systeme gehen dabei über Lösungen wie RFID hinaus – sie können den Produktionsprozess aktiv beeinflussen.

“Nicht eine zentrale Steuerung, sondern quasi der Rohling für ein Produkt “sagt”, wie er in den einzelnen Fertigungsschritten bearbeitet werden muss”, heißt es bei Kagermann, Lukas und Wahlster. Das digitale Produktgedächtnis sei mit betriebswirtschaftlicher Software vernetzt und erhalte von dieser Prozessdaten für autonome Entscheidungen.

Cyber-Physische Systeme bilden dabei die Grundlage für das Internet der Dinge, das im Rahmen von Industrie 4.0 mit dem Internet der Dienste kombiniert wird. Cyber-Physische Systeme könnten es laut Kagermann, Lukas und Wahlster ermöglichen, Alltagsprodukte mit Speicher- und Kommunikationsfähigkeiten auszustatten. Zwischen einem realen Produkt und dem digitalen Modell werde eine feingranulare Synchronisation möglich.

Vorboten der vierten industriellen Revolution sind demnach softwareintensive eingebettete Systeme, die Automobil- und Maschinenbau schon weit verbreitet sind. Kommt Industrie 4.0, dann würden diese in allen möglichen Branchen und Szenarien eingesetzt. Produktionsanlage und Produkte würden quasi “digital aufgepeppt”.

Cyber-Physische Systeme ermöglichen laut Kagermann, Lukas und Wahlster auch neue Geschäftsmodelle. Hier sei Deutschland gut aufgestellt – und sollte sein Know-How in Sachen eingebettete Systeme im Automobil- und Maschinenbau nutzen. “Produktionsstandort bleiben heißt heute, sich fit zu machen für die vom Internet getriebene vierte industrielle Revolution.”


August-Wilhelm Scheer, Bild: Bitkom

Mittlerweile hat sich auch August-Wilhelm Scheer in einem Blogeintrag zu Industrie 4.0 geäußert. Scheer wies darauf hin, dass die umfassende Steuerung von Industriebetrieben mit Hilfe des Computers bereits vor über 20 Jahren mit dem Konzept des ‘Computer Integrated Manufacturing’ (CIM) beschrieben wurde. CIM sei jedoch in Verruf geraten, weil die benötigten Techniken noch nicht zur Verfügung standen. Scheer: “Eine Idee kann noch so gut sein, wenn aber die dafür benötigten technischen Voraussetzungen nicht erfüllt werden, bleibt es eine Idee in der Schublade.”

Das Gute an Industrie 4.0 sei jedoch, dass dieses Konzept weniger auf einer organisatorischen Idee basiere, als vielmehr auf einer verfügbaren Technologie. “Insofern ist diesem Ansatz auch eine wesentlich höhere Realisierungschance gegeben.” Das sei auch eine große Chance für Deutschland. Während andere Staaten traditionelle Industrien an Asien abgegeben hätten, könne Deutschland hier die industrielle Weiterentwicklung bestimmen. Scheer: “Insofern kann man mit gutem Gewissen von einer vierten industriellen Revolution sprechen.”


V.l.: Kagermann, Broy, Georg Schütte (BMBF), Reinhold Achatz (damals Siemens), Bild: acatech

Was Cyber-Physische Systeme sind, hat auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) nach eigener Aussage beim vergangenen Nationalen IT-Gipfel in München gelernt. Kagermann übergab dort ein Positionspapier der acatech. Der wirtschaftliche Nutzen von Cyber-Physischen Systemen sei enorm, sagte er. Allein in der Produktion erschlössen Cyber-Physische Systeme enorme Effizienzgewinne.

Laut Projektleiter Manfred Broy (TU München) liegt mit den Projektergebnissen eine Agenda für Wirtschaft, Politik und Wissenschaft vor. Cyber-Physische Systeme werden sich demnach mit wachsender Dynamik durchsetzen. Der Innovationsdruck sei enorm, eine schnelle Reaktion von Politik, Wirtschaft und Wissenschaft notwendig.

Cyber-Physische Systeme stellten die Grenzen von Branchen und Fachdisziplinen ebenso in Frage wie etablierte Geschäftsmodelle, sagte Broy. Die mit Cyber-Physischen Systemen verbundenen Herausforderungen seien groß: Wie ist mit heterogen vernetzten Gebilden umzugehen, die eine ganzheitliche Zusammenarbeit von Maschinenbau, Elektrotechnik und Informatik erfordern? Wie lassen sich Cyber-Physische Systeme beherrschen? Wer baut, steuert, kontrolliert und wartet sie?

Das Positionspapier empfiehlt, eine Arbeitsgruppe von Wissenschaftlern, Juristen und Politikern einzusetzen, die ein Konzept für den Umgang mit personenbezogenen Daten entwerfen soll. Die Bevölkerung sollte in den Dialog über die Ausgestaltung von Cyber-Physischen Systeme frühzeitig einbezogen werden. Dazu müssten Schaufenster und “Living Labs” die Anwendungen sichtbar machen.

Die Akademie rät zur Einrichtung eines Nationalen Forschungs- und Kompetenzzentrums für das Internet der Dinge, Daten und Dienste. Ausbildungs- und Studiengänge sollten an die Herausforderung Cyber-Physische Systeme angepasst werden. acatach empfiehlt zudem interdisziplinäre Studiengänge und Innovationsallianzen aus Industrie und Forschung.

Silicon-Redaktion

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