silicon.de: Betrachten wir zunächst das Thema b2b und Mobility. Immer mehr Unternehmensanwendungen im Umfeld von ERP oder CRM bieten bereits mobile Schnittstellen. Warum müssen Unternehmen dennoch eigene mobile Anwendungen schreiben?

Müller-Jones: Heutige Smartphone-Nutzer sind es gewohnt – bewusst oder unbewusst – immer leistungsfähigere Geräte mit sich zu führen, die in der Lage sind, komplexe und rechenintensive Anwendungen auszuführen, die bisher klassischen Computern oder Laptops vorbehalten waren. Dabei sind sie gewohnt, über Mobilfunk ständig mit dem Internet verbunden zu sein und auf die vielfältigen nützlichen Dienste jederzeit zugreifen zu können. Der Zugang zu diesen Diensten erfolgt hierbei über „Apps“, welche zumeist intuitiv mit den Fingern über Gesten bedienbar sind (Touch-Bedienung) und optimal auf die Nutzung des Dienstes abgestimmt sind.

Die Reduzierung auf das im jeweiligen Handlungskontext wesentlich Benötigte („Fit-for-Purpose“) sowie ihre einfache Benutzbarkeit führen zu einer hohen Akzeptanz dieser Apps bei den Nutzern.Die Forderung an Nutzerfreundlichkeit im privaten Umfeld wird nun berechtigterweiseauch im beruflichen Umfeld gefordert. Der aktuelle Trend, das eigene Smartphone mit zur Arbeit nehmen und auch nutzen zu wollen, auch als „Bring YourOwn Device“ (BYOD) bezeichnet, erzeugt einen hohen Druck auf die Unternehmen geeignete Lösungen zu schaffen.

Hierzu reicht es jedoch nicht mehr aus – wie zumeist geschehen – Unternehmensanwendungen dadurch zu mobilisieren, dass die Benutzung ihrer in der Regel komplexen Bedienoberflächen nun ausschließlich im Web-Browser erfolgt. Vielmehr muss der Kontext des Benutzers im Arbeitsablauf des Unternehmens betrachtet werden und ihm die Anwendungen genau das zur Verfügung stellen, was er zur Erfüllung seiner Aufgabe benötigt.

Apps dienen hier als Schlüssel, die komplexe Bedienwelt von Unternehmensanwendungen aufzubrechen und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Unternehmen ein benutzungsfreundliches Umfeld bereitzustellen, wie sie es bereits aus ihrem privaten Umfeld gewohnt sind.Dabei sind Apps nicht zwangsläufig auf das Smartphone oder Tablet beschränkt, sondern sind auch auf stationären Computern eine sinnvolle Bereicherung. Letztendlich sehen wir hier auch eine Konvergenz von Bedienkonzepten über verschiedene Geräteplattformen hinweg.

Dr. Kay Müller-Jones ist als Head of Global Consulting Practice bei dem Dienstleister Tata Consultancy Services auch für digitale Geschäftsstrategien und die App Factory verantwortlich.

Das verbesserte Nutzererlebnis („User Experience“) führt letztendlich zu einer höheren Zufriedenheit und höheren Produktivität im Unternehmen. Dabei eröffnet die Welt der Apps auch neuartige Möglichkeiten der Zusammenarbeit und des Wissensaustauschs, wie beispielsweise soziale Netze oder virtuelle Arbeitsräume, mit heute zum Teil noch ungeahnten Wertschöpfungspotentialen für die Unternehmen.

silicon.de: Weit mehr noch aber als im b2b-Bereich sind Apps derzeit wohl vor allem für Unternehmen interessant, die mit Kunden oder Verbrauchern zu tun haben?

Müller-Jones: Für Unternehmen eröffnet die zunehmende Verbreitung von Smartphones neue Möglichkeiten der Kommunikation und Interaktion mit dem Kunden. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass eine mobile Schnittstelle in Form der Bereitstellung von Apps nur einer von verschiedenen Kanälen zum Kunden darstellt. Klassische Kommunikationskanäle wie beispielsweise Telefon, Internet und Print-Medien haben hier weiterhin ihre Berechtigung. Es findet jedoch derzeit eine Verschiebung der Bedeutung statt. So eröffnen insbesondere soziale Medien wie soziale Netzwerke, auf die dann auch mobil über Apps zugegriffen werden kann, neue Möglichkeiten der Einbindung des Kunden in die Unternehmensabläufe.

So ist nicht nur eine individualisierte Werbung für Produkte und Dienstleistungen möglich, sondern auch eine effektivere Kundenbetreuung, in dem beispielsweise in Foren Fragen der Kunden zeitnah beantwortet werden können. Aber auch Bereiche neben Vertrieb und Service wie beispielsweise Forschung und Entwicklung, die bisher oftmals im Verborgenen agierten, profitieren von dieser neuen Nähe zum Kunden. Das direkte Feedback der Kunden und auch die Einbindung bei der Ideenfindung ermöglichen die zeitnahe Entwicklung markt- und vor allem nutzergerechter Produkte und Dienstleistungen. Letztendlich führt dies zu zufriedeneren Kunden mit einer hohen Bindung zum Unternehmen.

silicon.de: Welche weiteren Möglichkeiten sehen sie für Unternehmen noch?

Müller-Jones: Insbesondere sehen wir hier neuartige Möglichkeiten in der Zusammenarbeit zwischen Unternehmen im Rahmen komplexer Wertschöpfungsketten. Von der Produktentwicklung bis hin zum Vertrieb und Service lassen sich die wertschöpfenden Prozesse über Unternehmensgrenzen hinweg effizient miteinander verzahnen – und dies im globalen Kontext. Lösungen, welche die Effizienz der Kooperation durch verbesserte Kommunikations- und Wissenstransfermaßnahmen steigern, sind hier besonders attraktiv.

Die technologischen Möglichkeiten und Lösungen, die heute im Umfeld von Mobilität, Cloud Computing, sozialen Medien und Big Data zur Verfügung stehen, sind vielfältig. Es kommt nun vor allem auf ihre geeignete Orchestrierung bei der Entwicklung von wertschöpfenden Lösungen an.

Darüber hinaus eröffnen derartige neuartige Lösungen den Unternehmen Möglichkeiten neue Geschäftsfelder zu entwickeln oder sich auf verändernde Marktbedingungen einzurichten. Als Beispiel sei hier die Musik- oder Medien-Industrie genannt, die für die Nutzung digitaler Medien neue, primär digitale Geschäftsmodelle sucht, um sich dem Wettbewerb zu Firmen zustellen, die nicht ursächlich aus der Unterhaltungsindustrie stammen und dennoch in kürzester Zeit eine Marktdominanz erreicht haben.

silicon.de: Kennen Sie auch Beispiele für Unternehmen, die nicht in Form von Apps auf ihre Kunden zugehen? Lassen sich diese Unternehmen einer Branche oder Industrie zuordnen?

Müller-Jones: Es ist zunehmend schwierig Unternehmen zu finden, die sich diesem Trend entziehen können, vor allem wenn sieden direkten Zugang zum Endkunden beziehungsweise Verbraucher haben und suchen. Der Dienstleistungssektor und das produzierende Gewerbe sind für den Einsatz von Apps als ein Instrument des Kundenzugangs geradezu prädestiniert. Gleiches gilt auch für Dienstleistungen im öffentlichen Sektor. Die Entwicklung hat zum Teil jedoch erst begonnen – wie beispielsweise im Gesundheitssektor bei der Betreuung und Pflege von Patienten.

Alle Beispiele zeigen jedoch einen eindeutigen Trend auf, die Kunden bzw. Verbraucher eng in die Unternehmensabläufe einzubinden, um damit eine höhere Effektivität der Abläufe zu erreichen und vor allem auch flexibler und schneller auf Veränderungen reagieren zu können. Dies wird dadurch erreicht, dass die Komplexität der Abläufe aufgeteilt wird und entsprechende Apps bereitgestellt werden, die eine optimale Unterstützung im jeweiligen Anwendungskontext bieten.

Wie kann ein Unternehmen Informationen aus den Apps der Verbraucher gewinnen und diese am besten auswerten?
Bei der Nutzung von Apps werden vom Verbraucher eine Vielzahl von Informationenerzeugt, sei es bei der Speicherung der Daten beispielsweise in der Cloud oder bei der Benutzung der Apps selbst, wie beispielsweise Orts- und Zeitinformationen.

Sind die rechtlichen Voraussetzungen für den datenschutzkonformen Zugriff der Unternehmen auf derartige Informationen geklärt, stellt sich im Wesentlichen die Frage, welche Fragestellungen mit diesen Daten beantwortet werden sollen. Dies kann beispielsweise eine Trendanalyse zum Verbraucherverhalten sein. Auch das Sammeln von Feedback von Kunden zu Produkten kann im Rahmen der Produktweiterentwicklung sinnvoll genutzt werden. Der effizienten Analyse der Daten, sowohl strukturierter als auch unstrukturierter, kommt hierbei eine besondere Bedeutung zu, da hier in der Regel sehr große Datenmengen vorhanden sind („Big Data“), die zu sichten, zusammenzufassen und zu bewerten sind.

Obwohl bereits verschiedene technische Lösungen für diese Teilbereiche existieren – TCS beispielsweise bietet eine sogenannte „Listening Platform“ für Internet-Recherchen an – ist oftmals bei der Datenbewertung der „menschliche Faktor“ entscheidend, um wesentlich die Interpretation der Daten zu übernehmen. Dies muss nicht notwendig durch die Unternehmen selbst erfolgen, sondern kann im Rahmen eines „KnowledgeProcess Outsourcing“ (KPO) ebenfalls durch Dienstleister erbracht werden.

silicon.de: Wie viel gibt ein Unternehmen derzeit für die mobile Strategie aus und wie wird sich diese Investition künftig entwickeln.

Müller-Jones: Die Entwicklung einer mobilen Strategie ist Ausdruck eines sich verändernden Umgangs der Unternehmen mit ihren Kunden und auch ihren Mitarbeitern. Diese Veränderungen finden umfassend statt und betreffen zunehmend alle Unternehmensbereiche. Daher benötigen die Unternehmen eine umfassende „Digitale Strategie“, die Mobilität als einen wichtigen Kanal der Kommunikation und Interaktion bei der Entwicklung einer IT-unterstützten Geschäftsstrategie mit berücksichtigt.

Insofern lassen sich die Ausgaben für die Erarbeitung einer mobilen Strategie beziehungsweise einer App-Strategie und ihrer Umsetzung nur bedingt isoliert betrachten. Die schnellstmögliche Erzielung des Return-of-Investments (ROI) hängt wesentlich davon ab, wie schnell in diesem Fall Apps zur Unterstützung der ausgewählten Anwendungsbereiche zur Verfügung gestellt werden können, das heißt eine möglichst kurze Time-to-Market erzielt wird. Dabei sind bei komplexen Unternehmensabläufen die Abhängigkeiten von Apps untereinander und ihre Integration zu berücksichtigen.

silicon.de: Eine Anwendung steht ja eigentlich nur am Ende einer langen Kette. Wie weit muss ein Unternehmen die eigenen Prozesse und Verantwortlichkeiten auf die Mobilstrategie anpassen?

Müller-Jones: In der Tat sind Anwendungen oder Apps ein wichtiges Resultat der erfolgreichen Umsetzung einer aus der Digitalen Strategie abgeleiteten IT-Strategie, welche sich an den Unternehmenszielen ausrichtet. Dieses Business-IT-Alignment erfordert ein hohes Maß an Abstimmung im Unternehmen. Rollen und Aufgaben der an der Entwicklung der Digitalen Strategie beteiligten Personen müssen eng aufeinander abgestimmt werden.

Dies wird durch geeignete Governance-Modelle unterstützt, die die Zusammenarbeit insbesondere an der Schnittstelle von Business und IT regeln. Die Business-Seite umfasst hierbei sowohl die Fachbereiche als auch Funktionsbereiche wie beispielsweise Personalwesen, Finanzen und Administration. Die Beeinflussung ist hierbei bi-direktional. Effektivität der Governance-Prozesse ist ein Schlüsselkriterium, um letztendlich Apps möglichst schnell entwickeln zu können und das zunehmend größer werdende Portfolio an Apps gezielt weiter zu entwickeln.

silicon.de: In wie weit kann ein Beratungsunternehmen wie TCS hier die Unternehmen unterstützten.

Müller-Jones: TCS als Dienstleister verfolgt hier einen gesamtheitlichen Ansatz. Wir unterstützen unsere Kunden sowohl bei der Entwicklung einer Digitalen Strategie als auch bei ihrer Implementierung. Unsere Stärke liegt hierbei in der Verknüpfung von Business und IT. Auf Basis unseres Branchenwissens und des Wissens um den gewinnbringenden Einsatz von (IT-)Technologien sind wir in der Lage passgenaue Lösungen anzubieten. Dabei entwickeln wir diese Lösungen mit Hilfe modernster Methoden und Werkzeuge und unterstützen die Kunden bei der Einführung.

Mit der Umsetzung einer Digitalen Strategie finden in der Regel zum Teil umfangreiche Veränderungsprozesse im Unternehmen statt. Bei dieser vor allem IT-unterstützten Geschäftstransformation begleiten wir unsere Kunden langfristig.

silicon.de: Was verbirgt sich in diesem Zusammenhang hinter der App Factory?

Müller-Jones: Die App Factory ist eine Dienstleistung, um den zunehmenden Entwicklungsbedarf bei der Entwicklung von Apps zu decken. Wir erwarten hier eine zunehmende – förmlich „explodierende“ – Komplexität in der IT, die sich bei der Mobilisierung von Geschäftsprozessen bzw. der Entwicklung mobiler Apps ergibt.

Zur Verdeutlichung ein Beispiel: Eine Firma, die 50 Apps betreiben will, muss diese für mindestens drei verschiedene Geräteplattformen weiterentwickeln. Pro Geräteplattform müssen mindestens zwei Releases bedient werden. Und für jede App müssen auch noch einmal zwei Versionen parallel gepflegt werden. Das macht in der Summe mindestens 600 Applikationen, die parallel zu managen sind. Das schaffen viele Unternehmen mit herkömmlichen IT-Strukturen nicht mehr – zumal die Anzahl der Apps stetig weiter steigt.

Die App Factory stellt hier als Lösung einen hochgradig industrialisierten Entwicklungsansatz bereit, der auf dem etablierten Global Network Delivery Model der TCS aufbaut. Ein dazugehöriger App Factory Framework verzahnt vom Entwurf der Apps bis zur Inbetriebnahme und Wartung alle Prozesse optimal.Er beinhaltet auch Best-Practices in der Lösungsentwicklung selbst, wie beispielsweise die Nutzung vonService-Orientierung als vorherrschendes Architekturprinzip.

silicon.de: In der Studie, “The new Digital Consumer” stellt TCS fest, dass es offenbar künftig regionale Unterschiede bei der mobilen Nutzung gibt. So sind Nutzer in Lateinamerika und dem asiatisch-pazifischen Raum offenbar viel eher geneigt, ihren Konsum über mobile Geräte zu erledigen. Wie erklären Sie diesen Unterschied?

Müller-Jones: Ziel der Studie ist im Wesentlichen den aktuellen Grad mobiler Nutzung wiederzugeben. Es lassen sich daher nur generelle Vermutungen anstellen, um diese Unterschiede zu erklären. Ein möglicher Erklärungsansatz könnte in den unterschiedlichen Mobilitätsanforderungen in den jeweiligen Regionen liegen. In einigen ist Mobilität untrennbarer Teil des Lebensumfeldes der Bevölkerung. Das mobile Gerät ist dabei ein wesentlicher Bestandteil, um ein derart mobiles Leben zu gestalten. Auch die noch zum Teil erst in Ausbau befindlicheKommunikationsinfrastruktur wie Festnetztelefonie begünstigt die Nutzung mobiler Endgeräte.

Darüber hinaus können auch unterschiedliche Demographien in den Regionen eine Rolle bei der unterschiedlichen mobilen Nutzung spielen, beispielsweise in Bevölkerungen mit einem hohen Anteil jüngerer Menschen. Sie besitzen oftmals eine hohe Technologieaffinität und sind gegenüber neuartigen mobilen Diensten besonders aufgeschlossen.

Redaktion

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