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Juli-Rückblick: Das Wikipedia-Paradigma

“Bei großem Unwissen schadet ein kleiner Blick in Wikipedia nicht”, kritisiert eine Leserin den Umstand, dass letzte Woche an dieser Stelle Molière, der Künstlername des großen französischen Satirikers Jean-Baptiste Poquelin, gleich zweimal mit Doppel-l geschrieben worden ist.

Das tut weh!!! – Nein, nicht der Vorwurf der Bildungslosigkeit. Die ist nicht so schlimm, lässt sie sich doch durch Lernen beheben. Und lernen ist schließlich das Zweitschönste, was man so tun kann im Leben.

Aber dass man den Eindruck erweckt, man würde sich nicht ständig durch Wikipedia klicken, das ist deprimierend. Denn wenn immer ein Journalist mit auch nur einem bisschen Arbeitsethos heutzutage etwas von sich gibt, dann hat er selbstverständlich vorher nachgeschaut, was in Wikipedia dazu steht.

Gut, man verliert sich da leicht, klickt einen vielversprechenden Link nach dem anderen an und vergisst darüber oft, dass man eigentlich arbeiten müsste. Das ist die große Gefahr, die von Wikipedia ausgeht.

Aber ansonsten muss es doch genau das gewesen sein, was dieser begnadete Wissenschaftler am CERN, Tim Beerners-Lee, im Sinn hatte, als er 1989 das World Wide Web erfand: diese Hypertexte, mit deren Hilfe es sich so schön von einer sprudelnden Quelle des Wissens zu nächsten surfen lässt. Am Anfang des Web stand zweifelsohne das Wikipedia-Paradigma.

Aber dann geriet es halt sehr schnell auf Abwege. Das IP-basierte Midas-Paradigma löste die Vision von Tim Beerners-Lee ab: Alles, was Surfer anklicken, soll sich in Gold verwandeln, entweder direkt, wenn es sich um einen Kaufen-Button handelt, oder indirekt, indem die Klicks zu Personen-Profilen aggregiert werden, die viele Werbe-Milliarden wert sind.

Das Midas-Paradigma besagt das gerade Gegenteil vom Wikipedia-Paradigma: Nicht der Surfer soll sich wertvolles Wissen im Netz erschließen, sondern die Marketiers wollen dort geldwertes Wissen über ihn gewinnen.

Da nimmt es dann nicht Wunder, dass auch der geheimste aller US-Geheimdienste an diesem Wissen teilhaben will. Das wäre dann das NSA-Paradigma. Unter diesem Aspekt wird das Netz seit Wochen fast ausschließlich betrachtet.

Man kann es sich so vorstellen: Jeder Surfer trägt heute ständig eine mobile Version des Telescreens (deutsch: Televisor) aus George Orwells 1984 mit sich herum. Smartphone nennt sich die und sammelt laufend Orts- und Kommunikationsdaten. Die werden dann in den großen Rechenzentren der digitalen Goldfinger konsolidiert.

Und bei Bedarf greift dann darauf der große Supervisor zu. Ohne seine willfährigen Goldfinger hätt’s der arg schwer.

Ach ja, zum Glück gibt’s da noch Wikipedia, quasi ein äußerst vitales Reservat für digital Natives aus den Urzeiten des World Wide Web.

Herrschte überall im Netz derselbe Pioniergeist wie dort, dann hätte die NSA 40.000 – nach einer Wikipedia-Schätzung – hochgebildete Menschen als Angestellte. Und die wüssten, dass es vieles gibt, was herauszufinden, lohnender ist, als ob jemand, der Belangloses auf Facebook postet, vielleicht politisch ein obskurer Typ ist. Und diese Bildungshungrigen würden dann nur noch durch die Enzyklopädie im Web surfen.

Bleibt die Frage, warum jemand, der sich eigentlich auch dauernd in dieser geistig fruchtbarsten Region des Cyberspace herumtreibt, dann Molière mit Doppel-l schreibt. – Das liegt an diesen lehrreichen Umwegen, auf die man sich in der Wikipedia so gerne begibt: Nachdem man sich von Prism zu Ed Snowden, Molière und Tartuffe geklickt hat, kommt man irgendwie gegen Ende seiner Kolumne halt zum Artikel über Cabernet Sauvignon.

Diese Weine wiesen “immer einen konzentrierten Fruchtgeschmack mit einem tragenden Gerüst von Tanninen und Säuren auf”, heißt es da. Das ist ein Defizit von Wikipedia. Bloß lesend kann man so was nicht verstehen.

Aber schon ein kleines Glas genügt, und “der charakteristische Traubengeruch von schwarzen Johannisbeeren (Cassis), der zum Teil durch einen Geruch von Zedernholz begleitet wird“, lässt einem das Herz aufgehen.

Und: “Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über.” Das steht zwar nicht in Wikipedia, sondern in der Heiligen Schrift (Lukas, Kap. 6, Vers 45). – Ist aber auch lesenswert.

Und dann versteht man auch die Sache mit dem Tannin-Gerüst. Wikipedia hat also wieder mal recht! Und um das zu unterstreichen, sind zwei zusätzliche l doch das Mindeste.

Redaktion

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  • Wikipedia bietet viele Chancen, - auch dem professionellen Marketing.
    Schönes, peinliches Beispiel ist die kommerzielle Schüleraustauschorganisation STEPIN. Die hat sich in einem Wikipedia-Beitrag namens "Stepin" anscheinend selbst beweihräuchert. Als dann auch Kritik und Verweise auf Quellen mit negativen Erfahrungen aus Schüleraustauschen in Wikipedia auftauchten, versuchte man sich zunächst darin, alle diese Kritik zu löschen, zu revertieren, usw.
    Leider ging das nach hinten los. Stepin ist inzwischen insgesamt aus Wikipedia rausgeflogen. Zensur aus kommerziellem Interesse ist dieses Mal gescheitert.
    Gut für Wikipedia!

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