Wie sehr der Kommerz alle Lebensbereiche erfasst, das lässt sich am besten an den Klowänden vom Wirtshäusern ablesen. Deshalb war, zwei Halbe wegzustellen, früher auch sehr viel erbaulicher als heute. Die Kacheln um das Urinal bildeten damals ein meist gar prächtiges, keramisches Feuilleton.
Politisch anregende Essays fanden sich dort: “Der Klügere gibt nach, weshalb er schließlich der Dumme ist.” Gebrauchslyrik: “In Winkeln ist gut pinkeln.” Ethisch-theologische Erörterungen: “Wenn Gott nicht gewollt hätte, dass wir auf Wände schreiben, hätte er es uns nicht vorgemacht.” Und sogar Abhandlungen zur psychoanalytischen Axiomatik: Lange vor der Popularisierung des Internet und der damit eingehenden allgemeinen Erkenntnis, dass selbiges nichts vergisst, war etwa schon auf einer gesprungenen Kachel im Münchner Westend nachzulesen, dass informationelle Persistenz dem Menschen seit jeher aufs Gemüt schlägt: “Leben ist wie zeichnen – bloß ohne radieren.”
Diese herrliche verteilte Aphorismen-Sammlung ist mittlerweile ausgelöscht, ein Opfer des Marketing geworden. Überall wurden Kacheln gereinigt – “Klowände kärchern ist wie Bücher verbrennen” – damit nichts den Blick des wehrlosen Pinklers von den Reklametafeln ablenken kann, die heutzutage in Augenhöhe über den Becken angebracht sind.
Daran kann man ermessen, wie heimtückisch Werbung doch ist. Sie fällt bevorzugt dann über ihr Opfer her, wenn dieses ihr nicht aus kann, wenn man vorm Automaten steht, um Geld abzuheben – ohne das nun mal nichts geht – oder eben vor Kacheln.
“Ich bin doch nicht blöd”, denkt man, wundert sich, wie einem dieser Satz in den Sinn kommt, und blickt hilfesuchend nach oben, zur weiß gekalkten Decke der Erleichterungshalle, über die verlorengegangene philosophische Atmosphäre dieses Ortes trauernd.
Vielleicht doch noch ein Versuch, sie spekulativ wieder herzustellen: Was lässt sich aus den verschiedenen, den Stoffwechsel betreffenden Dialektausdrücken für die kulturelle Entwicklung der deutschen Ethnien schließen? denkelt man.
“Bieseln” spricht man’s in Bayern aus, mit einem weichen b, gefolgt von einem langgezogenen ie. Das klingt nach Bier in Masskrügen und entsprechend – zum Abschluss des Stoffwechselprozesses – nach ausreichend Zeit und Muse, um die Gedanken umherschweifen zu lassen.
Das norddeutsche “pissen” wiederum hört sich hart und hektisch an. Pils halt. Eine einzige Barbarei und am Ende höchstens für intellektuelle Kurzschlüsse geeignet.
Man verwirft diesen Gedanken aber schließlich wegen der Freunde und Kollegen in Köln, wo man Bier aus Reagenzgläsern zu sich nimmt, und weil er, zuende gedacht, binnenrassistisch wäre. – Es fällt einem am Becken vor einer Werbefläche mit gekärchertem Umfeld halt einfach nichts Vernünftiges ein, verlässt frustriert diesen geschändeten Ort und geht nach hause, um noch ein bisschen zu surfen.
Und da passiert’s dann! – Bluescreen, und auch die Wiederherstellungs-Disk hilft nichts. Das bedeutet: Neuinstallation.
Windows ist buddhistisch, ein ewiger Kreislauf von Werden und Vergehen, nur dass bei Windows das Nirwana keine Erlösung bringt, sondern im Gegenteil diese schicksalhafte Abfolge immer wieder neu einleitet.
Besonders unangenehm ist dabei das Werden. Dem Installations-Bildschirm ist man ausgeliefert wie der Klowand beim Bieseln. Und tatsächlich: Die Parallelen sind frappierend. Während der Fortschrittsbalken nicht vorankommen will, nutzt Microsoft die Hilflosigkeit seiner Kunden, um Werbebotschaften abzusondern. Man installiere gerade „das sicherste Windows“ muss man da lesen, also das, das vorhin im Nirwana verschwunden ist. Dann folgt die Einschränkung: „das bisher entwickelt wurde“. So relativ sind Superlative made in Redmond.
Und vorm Konfigurieren und dem Aufspielen der Anwendungsprogramme, also am Anfang einer Nacht ohne Schlaf, wünscht einem dieses unverschämte Stück Software dann noch: “Viel Spaß mit Windows!” – Von wegen! Das erste, was jetzt heruntergeladen wird, ist ein Dual-Boot-Manager, um eine Migration einzuleiten.
Und in Gedanken zückt man schon einmal einen virtuellen Filzer, um einen Klospruch an die digitale Kachel zu schreiben, Kategorie: Gebrauchslyrik. – “Und wenn du glaubst, es geht nicht mehr, kommt irgendwo ein Tux daher.”
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