Müssen wir wirklich jederzeit und überall alles aufzeichnen, was in unserem Gesichtsfeld auftaucht? Oder braucht es für den Umgang mit Datenbrillen, Smartphones, Cloud-Diensten und anderen Gadgets nicht eher einen „digitalen Knigge“, fragt sich Dr. Clemens Plieth.
Es ist schon praktisch, dass auf die Vorweihnachtszeit der großen Einkäufe direkt im Anschluss die Zeit der guten Vorsätze zum Jahreswechsel folgt. Dann könnten zum Beispiel all diejenigen, die zu Weihnachten ein schickes neues Smartphone geschenkt bekommen haben, einmal in Ruhe darüber nachdenken, ob es wirklich nötig ist, in Bahnen, öffentlichen Räumen und Plätzen unüberhörbare Gespräche über das Gerät zu führen, oder seine sonstigen Funktionen in voller Lautstärke auszuprobieren. Die Zeiten, als Menschen bei einer Taxifahrt oder in der Bahn noch fragten, ob sie ihr Handy benutzen dürften, sind wahrlich lange vorbei.
Wer in aller Öffentlichkeit seine Umgebung an seinen persönlichen Angelegenheiten lautstark „teilhaben“ lässt, hat vermutlich wenig Sinn für den Wunsch anderer Menschen nach Privatsphäre. Und nutzt sein Multimedia-Gerät auch, um bei jeder Gelegenheit zu filmen. Dagegen haben zum Beispiel Unternehmen etwas, die ihre Forschungs- und Entwicklungsbereiche schützen wollen. So dulden etwa die meisten Autohersteller in ihren Werken schon seit Jahren keine Handys mit Kamerafunktion mehr.
Privatpersonen können sich gegen das Abgefilmt-werden nicht so einfach wehren. Der Trend scheint unumkehrbar, da die technischen Voraussetzungen zur totalen audiovisuellen Erfassung aller durch alle bereits vorhanden sind – und noch weiter ausgeweitet werden. Google-Streetview-Autos fahren schon seit geraumer Zeit durch die Lande, um Häuser und Gebäude zu filmen, Flugroboter beziehungsweise „Immobiliendrohnen“ tun das gleiche aus der Luft, und der letzte Schrei in der Beobachtung am Boden ist die Datenbrille mit Augmented-Reality-Technik, wie sie Google unter dem Namen „Google Glass“ anbietet.
Dabei reichert ein Minicomputer am Brillenrahmen mit integrierter Digitalkamera die aufgenommenen Bilder um Daten an, die er beispielsweise von Internetseiten oder Apps empfängt. Gleichzeitig läuft der Transfer aber auch in die Gegenrichtung: Sämtliche Bild-, Ton- und Datenaufzeichnungen des Brillen-PCs werden automatisch an Google-Server übermittelt. Der dort abgelegte Informationsfluss umfasst neben Position und Bewegungsprofil des Datenbrillenträgers also auch Bilder und Daten anderer Menschen im öffentlichen Raum. Kann dies mit den geltenden Datenschutzbestimmungen und dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung noch vereinbar sein?
Umso dringlicher ist es, eine gesellschaftliche Verständigung darüber zu erzielen, wie wir mit den nahezu unbegrenzten Möglichkeiten umgehen, uns selbst und andere gläsern zu machen. Ein „Führerschein“ oder „Knigge“ für die Nutzung von Smartphones, Datenbrillen und Cloud-Diensten scheint gar nicht so weit hergeholt und könnte schon bald auf der Tagesordnung stehen. Nach ausgiebiger Erprobungsphase will Google seine Augmented-Reality-Brille 2014 auf den Markt bringen. Und die Konkurrenz schläft nicht: Erst vor kurzem wurde bekannt, dass die Firma Vuzix – gerade noch pünktlich zum Weihnachtsgeschäft – eine auf Android basierende Alternative zu Google Glass anbietet, die 999 US-Dollar kosten soll. Das sind 500 Dollar weniger, als Google für die so genannte „Explorer Edition“ seiner Datenbrille verlangt, die bereits rund 10.000 Kunden als Testversion nutzen.
Für eine Probandin kann der Beta-Test noch teurer werden, denn im US-Bundesstaat Kalifornien gibt es schon Benimmregeln: Keine Datenbrille am Steuer eines Autos! Ein Streifenpolizist zeigte die Testerin nicht nur wegen Geschwindigkeitsüberschreitung, sondern auch wegen des Tragens der Google-Gläser während der Fahrt an. Die Angeklagte wiederum behauptet, dass die Brille während der Fahrt abgeschaltet war und sich erst wieder einschaltete, als sie den Polizisten am Fenster ansah. Hier steht nun also Aussage gegen Aussage – das verspricht ein kniffliger und unter Umständen wegweisender Fall für das zuständige Verkehrsgericht zu werden.
Als PR-Gag erwies sich indes das „Verbot“ für das Tragen von Google Glass, das ein Café in Seattle im US-Bundesstaat Washington „vorsorglich“ auf seiner Facebook-Seite aussprach, noch bevor die Testversion überhaupt im Einsatz war. In einem Radiointerview führte der Besitzer zu den Gründen dafür unter anderem aus, dass in seinem Lokal bisweilen eine zwielichtige Gesellschaft verkehre und viele seiner Gäste es vorzögen, inkognito zu bleiben. Schließlich stellte sich aber heraus, dass das Lokal – wie viele andere Unternehmen in den USA auch – seine Kundschaft schon seit längerem selbst mit Überwachungskameras beobachtete.
Auch wenn es sich bei dieser Aktion nur um einen – offensichtlich erfolgreichen – Marketing-Coup gehandelt hat, berührt sie doch den Kern des Problems. Und im in puncto Datenschutz und Privatsphäre wesentlich empfindlicheren Deutschland sollte ein künftiger Google-Glass-Träger besser nicht darauf vertrauen, dass ein Verbotsschild in einem Lokal nur als Witz zu verstehen ist. Hier könnte ihm tatsächlich das blühen, was der Betreiber des „5 Point Cafe“ in Seattle Besuchern im Scherz androhte: „The 5 Point is the first Seattle business to ban in advance Google Glasses. And ass kickings will be encouraged for violators.”
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