IRQ 14-10: N2L – das Neo-Neolithikum
Unser Kolumnist Achim Killer denkt darüber nach, wie es wäre, wenn die moderne Informationsgesellschaft plötzlich in die Jungsteinzeit zurückversetzt würde. Zur Warnung: Sein aktueller Artikel ist nichts für Leser mit schwachen Nerven. Denn das Bild, das er zeichnet ist schrecklich. Schrecklicher noch: Es ist wahr.
Man muss sich dieses Horrorszenario einmal wirklich bildlich vorstellen: München, das Zentrum der deutschen High-Tech-Branche! Selbst die einschlägigen US-Konzerne wie Microsoft und Intel haben hier ihre Niederlassungen. Und sogar das Leitorgan der IT-Industrie, silicon.de, wird in dieser angesagtesten aller Metropolen erstellt.
Und dann das! Auf einen Schlag ist die Moderne verschwunden. Und das Neolithikum breitet sich wieder in einer Gegend aus, die durch die Gletscher der letzten Eiszeit geprägt ist.
Das Neolithikum ist zwar auch eine Zeit technischer Umwälzungen. Aber nicht Software-Entwicklung und Chip-Design bilden da die Hochtechnologien, sondern Ackerbau und vor allem Viehzucht.
Und München wird wieder von nomadisierenden Viehzüchtern in ihrer typischen archaischen Kleidung überrannt. Wilde Horden aus Ostasien sind dabei, so manch eine marodierende Meute aus dem Latium und sogar Leute von den Eilanden südlich der Südsee. Sie alle aber erkennen die Überlegenheit der bajuwarischen Kultur an und sind sehr bemüht, sich zu assimilieren.
Die männlichen neolithischen Eroberer haben sich von der hiesigen Urbevölkerung die Beinkleider, gefertigt aus den Häuten des heimischen Wildes, abgeschaut. Und ihre Frauen haben die Sitte übernommen, sich ihre gelegentlich ausladenden Brüste hochzubinden und halb zu entblößen, was oft sehr vulgär aussieht. (Manchmal ist es aber auch allerliebst anzuschauen.)
Was das Völkergemisch eint, ist ein gemeinsamer Kult. Verehrt wird eine dionysische Gottheit, die für fruchtbare Äcker sorgt – was augenscheinlich auch im München des Neu-Neolithikums wichtig ist, wie die vielen umherstreifenden Primitiven vermuten lassen. Die Gottheit lässt aber auch gelegentlich etwas Getreide verderben, so dass daraus durch alkoholische Gärung ein berauschendes Getränk entsteht. Keine Designerdrogen wie im Informationszeitalter, sondern der im 21. Jahrhundert ansonsten als anachronistisch geltende Alkoholrausch prägt das Bild des neujungsteinzeitlichen Münchens.
Täglich ziehen die furchteinflößenden Horden, die in Häute gewandeten Wilden mit ihren halbnackten Weibern, zur zentralen Kultstätte. Die Häuptlinge haben Männer und Frauen aus fremden Ländern, mit denen sie Handel treiben, dazu eingeladen. Manchmal auch Schriftgelehrte, damit die ihr Lob verbreiten. Die klügsten Häuptlinge nehmen sogar ihre Sklaven mit. Das macht die fügsam. Und gemeinsam bringt man dann Tier- und Getreideopfer dar.
“Atemlos”, erklingt an der großen Kultstätte die Stimme eines Mädchen aus der zentralasiatischen Steppe, das viele der Primitiven für die schönste Germanenfrau halten.
Und dann die rituelle Formel des Neo-Neolithikums: “Ein Prosit, ein Prosit, der Gemüüühtlichkeit. Ein Prosit… Ois, zwoa, gsuffa!”
Ob’s am Bier liegt, dass einem sowas beim Wiesnbesuch einfällt, zu der die nette IT-Sicherheitsfirma eingeladen hat? – Wohl kaum. Nach nicht einmal einer und dazu noch Oktoberfest-üblich schlecht eingeschenkten Mass. Es ist wohl eher ein Flashback, ein Drogenwahn, der entsteht, wenn alle um einen herum Drogen aus Literkrügen konsumieren. Ein Horrortrip könnte draus werden, wenn sich vergegenwärtigt, dass – allein schon wegen der Preise im Zelt von Feinkost Käfer – viele dieser Seppelhosen wohl an den Schaltstellen der Informationsgesellschaft sitzen.
Egal. Noch vier Tage. Dann ist’s vorbei. Dann werden Biergläser wieder ordentlich eingeschenkt. Und Software-Igenieure erschrecken einen nicht in Viehhirtenverkleidung. Ohne Wiesn fehlt einem nix in München.
Höchstens vielleicht die vielen Mädels aus aller Welt in ihrer bajuwarisierten Reizwäsche. Wenn man in der U-Bahn oder einem anderen modernen Verkehrsmittel sitzt, sich also der beruhigenden Gegenwart der Moderne gewiss ist, dann sind die halt doch manchmal allerliebst anzuschauen.