Virtual Reality (VR) gehört schon seit den 90er Jahren zu den großen Versprechen der Computerbranche. Wurde immer wieder mal als Demo vorgeführt, wurde nie wirklich marktreif, blieb über Jahrzehnte ein unerfülltes Versprechen.
Nun hat sich die Lage aber doch geändert. Die Rechengeschwindigkeit und Speicherkapazität der Computer ist um ein Vielfaches gestiegen und die Bandbreite von Internetleitungen lässt sich auch nicht mehr mit den mageren Übertragungsgeschwindigkeiten des Modem- oder ISDN-Zeitalters vergleichen. Von den Fortschritten bei der Software ganz zu schweigen.
VR ist plötzlich wieder interessant geworden. Seit Facebook den VR-Spezialisten Oculus für über zwei Milliarden Dollar übernommen hat und Microsoft seine nun auch in Europa verfügbare Augmented-Reality-Brille HoloLens vorgestellt hat, ist die Technik endgültig im Mainstream angekommen.
Inzwischen ist Virtual Reality längst nicht nur für die Spiele- und Entertainmentbranche attraktiv. Fast alle Branchen interessieren sich inzwischen dafür. Von der Forschung über die Produktentwicklung bis zum Verkauf sind viele Anwendungen denkbar.
Gerade fürStart-ups kann die neue Technik auch zum echten Business Enabler werden, wenn sie ihre Geschäftsmodelle damit aufbauen. Und auch in der Automobilindustrie ist Virtual Reality längst angekommen. Beispielsweise bei Audi. Der Techscout Marcus Kühne arbeitet mit einem Team daran, die Technik auch beim Autobauer aus Ingolstadt zu etablieren. Genutzt werden soll sie vor allem für den internationalen Vertrieb.
silicon.de: Audi gehört zu den Vorreitern beim Einsatz von Virtual Reality in der Automobilindustrie. Welches Potenzial sehen Sie in VR?
Marcus Kühne: Von Virtual Reality fasziniert bin ich schon seit den 90er Jahren. Damals gab es allerdings noch große Einschränkungen: Die Technik, aber auch der Markt waren einfach noch nicht so weit. Zwischen dem, was man sich erträumte und dem, was man damals beim Umgang mit Consumer VR erlebte, lagen Welten. Deshalb geriet das Thema etwas in Vergessenheit. 2012 lebten mit der Kickstarter-Kampagne von Oculus aber die alten Träume wieder auf. Als ich 2013 auf der CES in Las Vegas, den handgebastelten Prototypen von Oculus Gründer Palmer Luckey ausprobiert habe, war ich trotz einiger Mankos wie der niedrigen Auflösung augenblicklich vom bevorstehenden Durchbruch im Konsumentenmarkt überzeugt.
silicon.de: Aber bei Audi geht es ja nicht um Spiele und Entertainment.
Marcus Kühne: Genau. Ich sehe das Potential der Technologie deshalb nicht nur im Bereich “Games”, sondern auch im Business, beispielsweise im Marketing und der Entwicklung. Oculus ist mit viel Pioniergeist dabei, VR aus seiner Nische zu befreien und für jeden zugänglich zu machen. Diese Chance muss eine innovative Marke wie Audi nutzen. Für mich ist klar: Mit VR kann man Kunden begeistern und ihnen darüber hinaus einen echten Mehrwert bieten.
silicon.de: Was hat das Audi-Management denn konkret davon überzeugt, die Technik einzusetzen?
Marcus Kühne: VR muss man erleben, um die damit verbundene Faszination nachvollziehen zu können. Daher habe ich zunächst die Gründer von Oculus nach Ingolstadt eingeladen und im Frühjahr 2013 mit den wesentlichen Entscheidern der Audi Marken- und Vertriebsstrategie zusammengebracht. Die haben das große Potenzial sehr schnell erkannt. Unmittelbar darauf bekam ich das Angebot, mich mit einem internationalen Team an die Umsetzung des Themas zu machen.
silicon.de: Wie entstand dann das endgültige Produkt?
Marcus Kühne: Wir haben uns zuerst an die Entwicklung eines ersten Prototypen gemacht. Der musste einen “Proof of Concept” überstehen und Anhaltspunkte liefern, in welchen Bereichen die besonderen Herausforderungen liegen. Wir mussten beispielsweise eine Grafikengine finden, die komplexe digitale Fahrzeugmodelle in hoher Qualität und ohne spürbare Latenz darstellen kann. Zudem musste ein Prozess aufgesetzt werden, durch den unsere mehr als 50 Fahrzeugmodelle optimiert und immer aktuell gehalten werden.
In Brasilien fanden dann 2015 die ersten Demos bei drei Händlern statt, die uns ein sehr vielversprechendes Feedback gaben. Auf dieser Basis haben wir das Produkt weiterentwickelt. Inzwischen ist die Technik auch in Deutschland erlebbar – zum Beispiel am Münchner Flughafen und bei ausgesuchten Händlern. Auch ein internationaler Rollout steht bevor.
silicon.de: Welchen Mehrwert bringt VR den Kunden?
Marcus Kühne: VR soll dem Kunden ein besonderes Erlebnis bieten. Der Verkäufer kann dem Kunden eine VR-Sequenz einspielen, die an dessen persönliche Vorlieben und Interessen angepasst ist. Die Kunden sollen mit einer hohen Informationsqualität aber auch mit einmaligen VR-Erlebnissen belohnt werden.
silicon.de: Wie werden virtuelle Welten die Bereiche Vertrieb und Verkauf verändern?
Marcus Kühne: VR hat das Potenzial eine Revolution im digitalen Vertrieb einzuleiten, nicht nur in der Autobranche. Bisher werden Produkte zumeist auf konventionellen Displays präsentiert. Das ermöglicht aber kein authentisches Produkterlebnis. Selbst 3D-Displays zeigen weder realistische Größenverhältnisse noch wirkliches 3D. In unseren Audi Citys haben wir bereits den nächsten Schritt getan und stellen die Fahrzeuge an großen Displaywänden nahezu in Originalgröße dar.
Immersiven Technologien wie VR stehen für den nächsten Schritt. Die Produkte wirken schon sehr authentisch und fast real. Hier kann man virtuell in seinem zukünftigen Auto sitzen, dabei jedes Detail näher betrachten und sogar aussteigen und sich um das Fahrzeug bewegen. Der Kunde sieht dabei nicht nur ein realistisches Abbild des Autos, er erlebt dabei auch unerwartete Dinge – zum Beispiel, wenn er in den Motorraum hineinsieht oder andere technische Komponenten betrachtet. Und er kann auf Knopfdruck Umgebung oder Tageszeit ändern.
silicon.de: Gehen wir mal weg vom Auto im Verkaufsraum. Eine Vision ist, dass wir uns mit VR sozusagen überall hin beamen können. Wird diese Technik die Mobilität verändern?
Marcus Kühne: Da muss man etwas differenzieren – nehmen wir zunächst den Tourismus beziehungsweise das Reisen an sich: Hier werden derzeit zwei Thesen diskutiert. Manche glauben, dass Menschen weniger reisen werden, wenn VR den Massenmarkt durchdrungen hat. Die Gegenthese lautet, dass viele Menschen noch mehr reisen werden, da sie die virtuell erlebten Orte auch in Realität sehen möchten. Ich teile die letztere Ansicht.
Überhaupt werden wir – auch im Zuge des parallel laufenden Globalisierungstrends – viel natürlicher mit Menschen aus anderen Kulturen und Regionen interagieren. Dank Virtual Reality können wir Distanzen überbrücken und das sowohl räumlich als auch sozial. VR trennt Menschen nicht, wie manch Skeptiker annimmt – sondern wird sie auch über große Entfernungen zusammenbringen.
silicon.de: Mark Zuckerberg hat gesagt, dass Oculus die Chance hat, die sozialste Plattform aller Zeiten zu erschaffen.
Marcus Kühne: Wie schon angedeutet, wird mittels VR schon bald ein Großteil der zwischenmenschlichen Kommunikation – also auch Mimik und Gestik – über große Distanzen hinweg übertragbar sein. Das wird die Art, wie wir mit weit entfernten Menschen kommunizieren, definitiv verändern. Auch die Zusammenarbeit in internationalen Teams kann so eine ganz neue Qualität bekommen.
Das habe ich letztes Jahr im Herbst auf der Oculus Connect in Los Angeles selbst erleben dürfen. Ausgerüstet mit einer VR-Brille und zwei Touch-Controllern in der Hand, war eine nahezu natürliche Interaktion zwischen zwei Menschen möglich. Wir haben dort mit virtuellen Wasserpistolen gespielt, gemeinsam mit Bauklötzen etwas gebaut. Wir haben interagiert als stünden wir uns direkt gegenüber.
silicon.de: Wo sehen Sie das größte Potenzial für Virtual Reality?
Marcus Kühne: VR hat auch für das immersive Lernen enormes Potential. Es ist das perfekte Medium, um komplexe Informationen intuitiv zu vermitteln. Der Mensch ist stark visuell geprägt. Wenn wir etwas sehen, verarbeitet unser Gehirn Informationen viel besser als bei abstrakt vermittelten Informationen. Mit VR bieten sich ganz neue Möglichkeiten, Zusammenhänge, etwa aus Physik, Mathematik oder Chemie darzustellen. Menschen, die sich von Zahlenkolonnen und Formelsammlungen abgeschreckt fühlen, könnten sich so für diese Themen interessieren. Auch Geschichte wird so eindrucksvoll erlebbar. In Bildungseinrichtungen, künstlerischen und wissenschaftlichen Institutionen, aber auch zu Hause werden sich ganz neue Möglichkeiten des Lernens und der Wissensvermittlung ergeben.
Den Möglichkeiten ist eine Studie von Deloitte, Fraunhofer FIT und Bitkom nachgegangen. Deren Autoren sehen enormes Potenzial, warnen aber auch vor überzogenen Erwartungen. Der eco Verband hält zugleich das Feld Augmented Reality für unterschätzt.