Wie beurteilen Sie die Rolle der Frauen in MINT-Berufen, insbesondere im Technologiesektor?
Dr. Andrea Gaal: Es gibt definitiv nach wie vor viel ‚Luft nach oben‘. Es gilt schon sehr früh – allen möglichen Vorurteilen und Gewohnheiten zum Trotz – in der Kommunikation im Vorschulalter beginnend, Kindern Lernangebote zu offerieren, die nicht den oft gängigen Unterscheidungen von -rosa/blau‘, Mathematik/Naturwissenschaften vs. Sprachen/Kunst entsprechen. Viele Frauen wagen sich später nicht in das Terrain ‚MINT Berufe‘, weil sie oft nicht ganz positives Feedback von anderen gespeichert haben. Wir benötigen mehr Frauen in Führungspositionen im Tech Sektor – es geht abgesehen von der Kompetenz, die selbstverständlich ist, um eine gegenseitige Stärkung, deren gesellschaftspolitische Auswirkung nicht zu unterschätzen ist.
Was wird auf Hochschul- und Ausbildungsebene gut gemacht, und bei welchen Initiativen gibt es Ihrer Meinung nach noch viel zu tun?
Das Bewusstsein ist gewachsen. Auf Hochschulebene darf ich berichten, dass wir an der Webster Private University Vienna eine neue Vorlesung ins Leben gerufen haben, „Women in Management‘, die von Student*Innen sehr gut angenommen wurde. Wir gehen jetzt in das 3. Jahr, und ich freue mich immer besonders auf diese Vorlesung, in der es auch darum geht, den Weg von erfolgreichen Frauen aber auch Männern, die Frauen im Management tatkräftig auf ihrem Weg unterstützen, nachzuvollziehen, zu diskutieren und vor allem uns der Vorbildwirkung in verschiedenen Bereichen bewusst zu werden. Es ist auch immer wieder spannend, Frauen aus der Business Welt, wie etwa die CEO von IBM, einzuladen, ihren persönlichen Karriereweg zu beleuchten und dabei für StudentInnen einen Rahmen zu schaffen, konkrete Fragen stellen zu können. Dieses Wissen um Vorbilder von Frauen, die es geschafft haben, ganz oben in einer Hierarchie anzukommen, ist dabei ganz wesentlich – aber auch zu erfahren, wie es diese Managerinnen konkret gemeistert haben, Hürden zu überwinden, um die besagte ‚gläserne Decke‘ zu durchbrechen. Auf der Ausbildungsebene im Hochschulbereich benötigen wir eine höhere Anzahl an weiblichen Lektorinnen aber auch eine höhere Anzahl an Frauen in Führungspositionen. Wir brauchen Frauen, die das ‚Walking the Talk‘ auch leben, die authentisch sind und sich ehrlich für die nächste Generation einsetzen. Ich bemühe mich, mit meinen StudentInnen auch nach deren Universitätsabschluss und ersten Berufserfahrungen in Kontakt zu bleiben und unterstützend tätig zu sein.
Welche Berufsbilder haben Ihrer Meinung nach das größte Potenzial und/oder die meisten Chancen für Frauen?
Ich möchte mich nicht auf einzelne Berufsbilder festlegen, sondern eher dafür plädieren, dass wir Werte wie ‚Neugierde‘, ‚Aufgeschlossenheit‘, ‚Offenheit für Neues‘‚ ‚Resilienz‘ , ‚lebenslanges Lernen‘ ganz bewusst fördern; auch dieses ‚Think Big‘, das im anglo-sächsischen Raum weitaus besser ausgeprägt ist als bei uns, d. h. sich etwas selbstbewusst zutrauen und Projekte oder Berufsbilder anzupeilen, die vielleicht zum jeweiligen Zeitpunkt noch eine Schuhnummer zu groß sind oder noch gar nicht bestehen. Diesen Mut aufzubringen, nicht nur ‚zu neuen Ufern aufzubrechen‘ sondern auch konkret Geschäftsmodelle, Produkte oder Services zu entwickeln oder anzubieten, die es in dieser Form bis dato noch nicht auf dem Markt gibt. Darin sehe ich ungeheure Chancen.
Ist das Geschlechtergefälle größer als in unseren Nachbarländern? Wenn ja, warum?Das kommt auf den Management Level an. Wenn ich mir die aktuellsten globalen Studien ansehe, dann ist Österreich im oberen Mittelfeld bei 29 Prozent, wenn es beispielsweise um Besetzung durch Frauen von Aufsichtsratsmandaten oder Board Positionen geht. Länder wie Frankreich oder die skandinavischen Länder liegen hier eindeutig voraus, weil es schon seit vielen Jahrzehnten ein höheres Bewusstsein für die Thematik gab und infolgedessen schon weitaus früher bessere Kinderbetreungsmöglichkeiten bestehen als flächendeckend bei uns; auch die gelebte Rolle von Vätern, die es wagen, in Väterkarenz zu gehen bzw. die Kultur, nicht nach 18:00 ein Meeting anzusetzen, ist weiter fortgeschritten. Wenn wir mehr Frauen sehen, die auch an den Hebeln der Macht sitzen, und diese Kultur fördern, wie etwa Sheryl Sandberg, die zu ihren Kollegen meinte, es tue ihr leid, aber ab 17:00 könne sie an keinem Meeting teilnehmen, weil sie jeden Abend um 18:00 mit ihren Kindern gemeinsam das Abendessen vorbereitet. Das bedeutet nicht, dass sie weniger arbeitet als andere, sie hat nur die kulturelle Akzeptanz geschaffen und sich den Freiraum erobert, selbst zu bestimmen, wann am Abend sie ein Projekt zu Ende bringt.
Wie haben Sie das letzte Jahr erlebt, hat sich der Abstand verringert oder ist die Situation ähnlich?
Im Zuge der Corona-Situation haben Frauen vor der Krise einen Schritt nach vorne gemacht; Zahlen belegen, dass es leider nun dringend gilt, die 2 Rückwärtsschritte wieder aufzuholen. Es hat sich bei einigen, leider nicht bei allen Unternehmen, ein Wertewandel vollzogen: Weg von einer dominanten Präsenzkultur hin zu einer auf Vertrauen basierten Arbeitskultur, die fokussiert auf Ergebnisse, die selbstverständlich geliefert werden müssen, MitarbeiterInnen mehr Flexibilität in der Erreichung der Ziele einräumt. Aktuelle Studien deuten jedoch darauf hin, dass Frauen, die nicht wieder großteils ins Office zurückkehren, Nachteile auf dem Karriereweg (z. B. bei Beförderungen) in Kauf nehmen müssen. Hier gilt es, mit aller Vehemenz dagegenzusteuern.
Sind Sie der Meinung, dass die notwendigen Maßnahmen ergriffen werden, um diese Kluft zu verringern? Was sollte Ihrer Meinung nach getan werden, um dies zu erreichen? Und um die “gläserne Decke” zu durchbrechen?
Es gibt in den Unternehmen zahlreiche Initiativen, um die Kluft zu verringern, sodass ‚die gläserne Decke‘ leichter durchbrochen werden kann. Abgesehen von Vorgaben wie einer Quote, die leider aufgrund des zu geringen Fortschrittes der letzten Dekaden erforderlich wurde, hege ich große Hoffnungen auf den ‚ESG Megatrend‘, dem sich Unternehmen in Zukunft nicht entziehen können. Wenn in Zukunft gemessen wird, wie das ‚S‘ für ‚social‘, das auch für Diversität in Unternehmen auf allen Managementebenen steht, bei einzelnen Firmen aussieht und diese Zahl im Vergleich mit anderen Unternehmen ein Wettbewerbsvorteil darstellen kann, sehe ich gute Chancen für eine positive Veränderung. Die EU ist nun gefordert, neben der soeben entstehenden Taxonomie das ‚E‘ (‘environmental‘) auch das ‚S‘ (‚social‘) zu definieren und den Kontext zwischen Messung und Betriebserfolg herzustellen. Dies könnte für qualifizierte Frauen einen großer Sprung nach vorne bedeuten und neue Perspektiven eröffnen.
Wie hoch ist der Anteil der Frauen in Ihrer Organisation? Ergreifen Sie Maßnahmen, um eine paritätische Vertretung zu erreichen? Worin bestehen diese?
In einer der Organisationen, in der ich als Aufsichtsrätin und in sämtlichen Ausschüssen tätig bin, ist der gesetzlich vorgegebene Anteil an Frauen übererfüllt. Abhängig vom Kontext, sind wir meist weit weg von einer paritätischen Vertretung. Ich unterstütze Organisationen wie ‚Frauen in die Aufsichtsräte‘ in Deutschland, die genau dieses Ziel an die Europäische Union getragen haben. Und genau das wird uns weiterbringen, wenn wir eine europaweite Vorgabe umsetzen können.
Welche Erfahrungen haben Sie selbst gemacht, und haben Sie sich jemals von Ihren Kollegen im Stich gelassen gefühlt, weil Sie eine Frau sind?
Mit diesem Beispiel kann ich nicht dienen – ich habe mich immer bemüht, konstruktive, positive Allianzen mit Frauen wie auch Männern zu schmieden – und das in verschiedenen Lebensphasen. Ausschließung ist in keinerlei Richtung konstruktiv. Inklusion und gemeinsames Arbeiten an den vorher besprochenen Zielen und deren zeitnahen Umsetzung – dafür gilt es sich leidenschaftlich und unermüdlich einzusetzen.
Dr. Andrea Gaal
blickt auf ihrem Karriereweg auf Stationen in britischen und amerikanischen High Tech Start-Ups zurück. Bei SONY und SONY ERICSSON zeichnete Sie als regionale Geschäftsführerin für die Regionen DACH, CEE und Nord-Amerika (Kanada) verantwortlich. 2008 erhielt sie vom österreichischen Ministerium für Innovation und Infrastruktur die Auszeichnung ‘Business Woman of the Year’ im Bereich Technologie & Telekom; neben weiteren Auszeichnungen konnte sie 2019 den BURDA Award ‘Inspiring Fifty’ der Top 50 Frauen im Business in der DACH Regionen entgegennehmen. Neben ihrer beruflichen Mitarbeit in Start-Ups ist sie als Aufsichtsrätin im Financial Services Bereich tätig und leitet als Chairwoman auch das ‘Digital Board Committee’ einer internationalen Bank.
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