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Geringer Frauenanteil in den MINT-Berufen ist besorgniserregend

Wie beurteilen Sie die Rolle der Frauen in MINT-Berufen in Deutschland, insbesondere im Technologiesektor?
Melanie Dreser: Der allgemeine Bedarf an Fachkräften im MINT-Bereich nimmt mit dem Fortschreiten der Digitalisierung seit Jahren kontinuierlich zu. Die Gefahr des oft beschworenen Fachkräftemangels in Deutschland ist daher sehr real. Die Nachfrage an qualifizierten Arbeitskräften kann bereits jetzt kaum gedeckt werden. Gleichzeitig sehen wir aber – vor allem im Bildungswesen – eine große Geschlechterungerechtigkeit. Über 50 Prozent der Bevölkerung Deutschlands sind weiblich, jedoch ist der Frauenanteil von lediglich 15,5 Prozent in den MINT-Berufen besorgniserregend gering.

Allein der Abbau dieser Ungleichheit könnte zu einem Zuwachs von ca. 1,2 Millionen Arbeitsplätzen führen. Essenziell dafür ist, bereits früh im Bildungsprozess den Grundstein dafür zu legen: dem gängigen Vorurteil, dass junge Mädchen nicht für naturwissenschaftliche Fächer geeignet sind, muss aktiv widersprochen werden. Ich habe mich in der Schule für den mathematisch-naturwissenschaftlichen Vertiefungszweig entschieden und war damals nur eines von zwei Mädchen in der Klasse. Für mich war das eine logische Wahl, weil diese Fächer am besten meine Interessen widergespiegelt haben. Ich hatte dabei den großen Vorteil, dass meine Eltern mich und meine Geschwister immer individuell und unabhängig von Geschlechterklischees gefördert haben.

Schaffen wir es, jedem Kind in Deutschland die gleiche Förderung auf dem Bildungsweg zukommen zu lassen, verbessert sich die Geschlechtergleichstellung signifikant. Für die MINT-Branche würde das bedeuten, dass langfristig die Wettbewerbsfähigkeit durch mehr Arbeitskräfte und diverse Kompetenzen und Stärken gesichert werden kann. Für viele junge Mädchen wird so der vorurteilsfreie Zugang zu MINT-Bildung vereinfacht, die in einer zunehmend digitalisierten Welt eine zentrale Zukunftskompetenz darstellt.

Was wird auf Hochschul- und Ausbildungsebene gut gemacht, und bei welchen Initiativen gibt es Ihrer Meinung nach noch viel zu tun?
Wie bereits erwähnt, gilt es schon im jungen Alter anzusetzen und die Stärken von Mädchen und jungen Frauen aktiv zu fördern und Interesse zu wecken. Initiativen wie der Girlsday, an dem wir mit Futurice bereits seit mehreren Jahren teilnehmen, machen MINT-Berufe beispielsweise aktiv erlebbar und schaffen erste wichtige Berührungspunkte.

Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass Netzwerke und Mentor*innen, die junge Frauen und Mädchen in vielen Schritten – von der Schule bis in die Führungsebene eines Unternehmens – begleiten, besonders wertvoll sind. Vorbilder helfen uns, die eigenen Ziele zu visualisieren und zeigen Möglichkeiten und Chancen auf, die es im MINT-Bereich gibt. Dabei spielen gerade weibliche Vorbilder eine zentrale Rolle. Sie sind eine große Motivation für Schülerinnen, Studentinnen und Bewerberinnen und senden das Signal, dass diese jungen Frauen nicht allein sind. Außerdem wissen diese Expertinnen, wie man am besten mit Vorurteilen umgeht und diese entkräftet. Solche Netzwerke müssten bereits im Schulumfeld viel mehr ausgebaut und gefördert werden.

Zuletzt gilt es darauf zu achten, dass wir nicht nur die schulische Bildung im Blick haben, sondern auch alles was darüber hinausgeht: Klischeefreie berufliche Beratungen, Studien- oder Berufsorientierungsprogramme, die Zukunftschancen aufzeigen. Auch hier kann man wieder mit speziellen Mentoring-Programmen ansetzen, um junge Menschen nach ihrem Schulabschluss weiter zu begleiten.

Welche Berufsbilder haben Ihrer Meinung nach das größte Potenzial und/oder die meisten Chancen für Frauen?
Aus ganz persönlicher Perspektive kann ich natürlich sagen, dass der Bereich Design und Software-Entwicklung große Chancen für Frauen bereithält. Während bei Futurice beispielsweise im Designbereich zu großen Teilen schon eine Parität besteht, bietet der Bereich Technologie und R&D (Research and Development) noch viel Raum.

Wir sehen auch beim Thema Klima und Umwelt ein großes Interesse von jungen Frauen. Nicht zuletzt Vorbilder wie Greta Thunberg und die Bewegung Fridays for Future haben dazu beigetragen die Aufmerksamkeit auf diese wichtigen Themen zu richten. Das ist bereits ein gutes Fundament, an dem weiter gearbeitet werden muss. Es gilt jetzt aufzuzeigen, dass es vor allem MINT-Berufe sein werden, die Lösungen für diese globalen Herausforderungen wie Klima- und Umweltschutz liefern werden. Daher zählt auch der Bereich ClimateTech zu einem, der großes Potenzial birgt.

Grundsätzlich jedoch bietet jedes Thema, das den MINT-Bereich betrifft große Chancen – das gilt für Frauen und Männer. Mit einer fundierten MINT-Bildung schafft man die Kompetenzen, mit der in Zukunft in unserer vernetzten und digitalisierten Welt Probleme gelöst werden können.

Ist das Geschlechtergefälle größer als in unseren Nachbarländern? Wenn ja, warum?
Hier muss ich leider sagen: Ja! Beim Thema Geschlechtergerechtigkeit hat Deutschland noch Aufholbedarf und steht im europäischen Vergleich auf den hinteren Plätzen. Hierzulande sind nur 33 Prozent der Wissenschaftler*innen und Ingenieur*innen Frauen. In Ländern wie Lettland (51%), Litauen (49%) oder Kroatien (48%) ist das Verhältnis besser. Bei R&D-Berufen liegt der Frauenanteil in Deutschland sogar nur bei 28 Prozent.

Obwohl MINT-Berufe zu den besser bezahlten Berufen gehören, besteht in Deutschland die höchste geschlechterspezifische Lohnlücke zwischen Frauen und Männern in Technikberufen auf dem gesamten europäischen Kontinent. Laut der Equal Measures 2030-Studie verdienen Männer in technischen Berufen fast 15.000 Euro mehr im Jahr als ihre Kolleginnen. Wenn die Lücke nicht geschlossen wird, verlieren diese Berufe für Frauen weiterhin an Attraktivität. Hier sind Unternehmen gefragt, Programme und Ziele zu implementieren, die die eigenen geschlechtsspezifischen Lohnlücken schließen.

Außerdem fällt auf, dass Deutschland im MINT-Sektor eine der höchsten Raten an Frauen hat, die von einer Vollzeit- auf eine Teilzeitstelle umsteigen, oder komplett aus dem Erwerbsleben ausscheiden. Ein Grund dafür ist, die Vereinbarkeit von Karriere und Familie, die in Deutschland im Vergleich mit dem europäischen Ausland oft unzureichend gegeben ist. Unternehmen fehlt es meist an ganzheitlichen Konzepten und Modellen, wie Arbeit und Arbeitszeit flexibel gestaltet werden kann – der Umzug ins Home Office ist dabei zwar ein erster Schritt, ersetzt aber keinen nachhaltigen Plan.

Wenn Frauen aus familiären Gründen in Teilzeit wechseln oder komplett aus dem Erwerbsleben ausscheiden, laufen wir Gefahr in einen Teufelskreis zu geraten: Denn dann fehlt es wieder an Mentorinnen und Vorbildern für den Nachwuchs.

Ich persönlich versuche auf verschiedenen Kanälen, beispielsweise durch meinen Podcast MamaLeaders Müttern in Führungspositionen und erfolgreichen Gründerinnen eine Plattform zu bieten. Denn die Vorbilder bestärken junge Frauen und motivieren sie weiterhin ihren Karriereträumen zu folgen – auch mit Familie und Kindern.

Wie haben Sie das letzte Jahr erlebt, hat sich der Abstand verringert oder ist die Situation ähnlich?
Leider muss ich auch hier sagen, dass sich die Situation aus meiner Sicht eher verschlechtert hat. Eine wichtige Rolles spielt auch dabei wieder das Thema Bildung: Mit den Schulschließungen in Folge der Corona-Krise sind größere Einbußen an Kompetenzen in Mathematik und Naturwissenschaften verbunden. Dies hat nicht nur direkten Einfluss auf die schulischen Leistungen sondern auch negative Folgen für die anschließende berufliche und akademische MINT-Bildung. Um dem entgegenzuwirken, sollten zusätzliche Fördermaßnahmen für die Schülerinnen und Schüler mit Lernverlusten angeboten werden. Bislang fehlen jedoch in Deutschland systematische und aussagekräftige Lernstandserhebungen an Schulen, die es erlauben würden, die Lernverluste durch die Corona-Pandemie zu quantifizieren.

Werfen wir einen Blick auf die Forschung, sieht man auch hier, dass sich die Krise im vergangenen Jahr negativ ausgewirkt hat. Es wird deutlich: Care-Arbeit wird zum Großteil nach wie vor von Frauen abgedeckt. Denn zahlreiche Studien belegen eine Gender-Publication-Gap. Das bedeutet, dass Frauen merklich weniger publiziert haben als Männer – dies galt vor allem für Mütter. Hier bedarf es strukturellen Anpassungen: Es muss ein aktives Umdenken stattfinden und Väter müssen in die gleichberechtigte Care-Arbeit einbezogen werden, damit sich diese Lücke schließt.

Was sollte getan werden, um die “gläserne Decke” zu durchbrechen?
Wie bereits erwähnt, sind noch lange nicht alle notwendigen Maßnahmen ergriffen. Wir haben es hier mit einem systemischen Problem zu tun – Lösungsstrategien müssen also bereits im Kindesalter in den Bereichen Erziehung und Bildung angreifen. Gleichzeitig ist auch ein Umdenken in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik notwendig.

Wer denkt, dass der Weg von der Schulbildung in die Führungsriege in MINT-Berufen – aber auch in vielen anderen Bereichen – für Frauen genauso lange ist wie für Männer, hat nicht verstanden, dass Frauen auf diesem Weg signifikant mehr Hürden überwinden müssen. Dieses Bewusstsein muss geschärft werden.

Zudem ist es für Unternehmen hilfreich, sich harte Ziele zu setzen, um den Wandel proaktiv voranzutreiben. Initiativen wie Bias-Trainings, die Akzeptanz von unterschiedlichen Elternzeiten, egal ob lang oder kurz für Mütter und Väter, sowie die gezielte Förderung von Frauen durch Mentoringprogramme sind notwendig, um die “gläserne Decke” zu durchbrechen.

Wie hoch ist der Anteil der Frauen in Ihrer Organisation?
Diversity, Equity & Inclusion (DE&I) ist ein wichtiger Teil unserer Kultur bei Futurice. Doch auch bei uns ist noch keine paritätische Vertretung erreicht. Daher haben wir uns globale Ziele gesetzt, die für alle Länder gelten. Stand 2022 haben wir einen Frauenanteil von 22 Prozent in Technologie-Berufen und 35 Prozent in der gesamten Firma. Der Frauenanteil für Futurice Deutschland im Jahr 2021 lag bereits bei 43 Prozent.

Bis 2024 wollen wir den Anteil an Frauen in der Technologiekompetenz auf allen Karriereleveln auf 33 Prozent erhöhen. Daran arbeiten wir hart, mit ersten Erfolgen: 53 Prozent unserer neuen permanenten Einstellungen sind Frauen oder Menschen mit nicht-binärer Geschlechtsidentität. In den Bereichen Design und Strategy & Culture hat Futurice so bereits ein Gleichgewicht zwischen den Geschlechtern erreicht.

Maßnahmen, um auf lange Sicht ein Gleichgewicht herzustellen sind u.a. die Beeinflussung unserer Talentpipelines bei der Rekrutierung von neuen Talenten. Hier stellen wir von vornherein sicher, dass unsere Stellenanzeigen inklusiv sind und wir uns der vorherrschenden Vorurteile im Rekrutierungsprozess bewusst sind. Intern haben wir zudem Mentoringprogramme, um sowohl unsere zukünftigen Führungskräfte zu diversifizieren als auch zu einer integrativen Führung im Unternehmen beizutragen. Zudem achten wir auf das Thema Geschlechtergerechtigkeit auch bei Beförderungen und Gehaltserhöhungen, die wir unter diesem Gesichtspunt analysieren.

Wir sind auf dem Gebiet DE&I sehr aktiv und bieten auch regelmäßig Meetings und Weiterbildungen zu entsprechenden Themen an, um auch unbewusste Vorurteile aufzudecken. Obwohl wir schon die ersten Zwischenziele erreicht haben, liegt auch vor uns noch ein langer Weg. Denn wie bereits erwähnt: Hierbei handelt es sich um ein systemisches Problem, das man leider nicht von heute auf morgen lösen kann.

Welche Erfahrungen haben Sie selbst gemacht, und haben Sie sich jemals von Ihren Kollegen im Stich gelassen gefühlt, weil Sie eine Frau sind?
Über meine gesamte Karriere hinweg habe ich viele negative Erfahrungen machen müssen, die mich jedoch nie abgehalten haben, meinen Weg zu gehen und meinen Wert einzufordern.

Mansplaining zum Beispiel ist besonders im MINT-Bereich gängig. Ich habe zahlreiche Situationen erfahren in denen Männer mir etwas erklärt haben, von dem ich mehr Ahnung habe. Ich habe dies immer direkt adressiert und keinen Zweifel gelassen, dass ich Expertin bin. Es ist wichtig auf solche Vorkommnisse direkt aufmerksam zu machen – vielen ist der belehrende Ton nämlich gar nicht bewusst. In einem spezifischen Kundenprojekt hat ein Manager mal kommentiert: “Wow, die Frau im Raum erklärt den Männern die Technik.” Mich machen solche Aussagen traurig, da es immer noch überraschend zu sein scheint, dass es durchaus viele Techexpertinnen gibt.

Ich habe mich mit der Situation jedoch abgefunden, dass meine Expertise öfter in Frage gestellt wird, als die meiner männlichen Kollegen. Mittlerweile bin ich selbstbewusst genug auch mit negativen Kommentaren umzugehen und zu kontern. Trotzdem ist es anstrengend sich erst beweisen zu müssen, wohingegen männliche Kollegen, oft automatisch dieses Vertrauen genießen. Jedoch kann ich feststellen, dass diese Situationen seltener werden und langsam, aber sicher ein Wandel sichtbar wird.

Melanie Dreser, Futurice


Melanie Dreser
Melanie Dreser arbeitet als Head of Design bei Futurice und brennt dafür, Nutzerbedürfnisse besser zu verstehen. Als Teil des deutschen Führungsteams treibt sie die strategische Entwicklung und das Tagesgeschäft auf dem deutschen Markt voran. Sie hat mehr als 13 Jahre Erfahrung in der Entwicklung nachhaltiger Geschäftsmodelle und digitaler Lösungen für weltbekannte Firmen aus den Bereichen Mobilität, FMCG, Energie und Gesundheit. Ihr Schwerpunkt liegt auf der Verbindung von Strategie, Design und Technologie zum Aufbau innovativer, datengestützter Organisationen.

Roger Homrich

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