Ersetzt KI bald den Anwalt?

Die Vorstellung, dass Algorithmen in unseren Rechtssystemen Entscheidungen treffen, die unser Leben direkt berühren, scheint einem Science-Fiction-Film entsprungen zu sein. Doch die Automatisierung im Sinne von Künstlicher Intelligenz ist sowohl in der Justiz wie auch ganz grundsätzlich im Umfeld von Corporate Governance, Risikomanagement und Compliance, kurz GRC, keine Zukunftsmusik mehr: Legal Tech existiert und wird auch in Deutschland von Gerichten, Anwälten und internen Rechtsabteilungen genutzt. Heißt das nun, dass ein virtueller Anwalt uns künftig vor Gericht vertritt? Oder ein Roboter auf Verbrecherjagd geht?

Nun, darüber mögen sich manche Experten streiten. Fakt ist, KI hat seine Stärken. So ist das menschliche Gehirn zwar extrem gut im Erkennen von Mustern. Wenn wir aber mit sogenannten Massendaten, also „Big Data“, konfrontiert werden, stoßen wir an Grenzen. Ein menschlicher Ermittler müsste sich tage-, wochen- oder monatelang durch die zahlreichen Quellen mit potenziellem Beweismaterial wühlen – selbst wenn es keine Garantie gibt, entscheidende Informationen zu entdecken.

Access-to-Justice-Anwendungen

KI dagegen durchsucht Terabytes, ja sogar Petabytes an Informationen und Daten in nur wenigen Minuten, filtert False-Positive-Meldungen heraus und liefert einen nahezu perfekten Einblick in Trends und Korrelationen zwischen Datensätzen. Gleichzeitig weisen etwa in der digitalen Forensik viele Prozesse dieselben Phasen der Beweismittelverarbeitung und -überprüfung auf, so dass es relativ einfach ist, sie zu replizieren. Das reicht in der einfachsten KI-Ausprägung von der Übersetzung fremdsprachiger Dokumente bis hin zu der Klassifizierung, dem Erkennen und Einordnen ähnlicher Objekte.

Was heißt das nun in der Realität? Verbraucher beispielsweise können mittels sogenannter Access-to-Justice-Anwendungen ohne direkten Kontakt zu einem Anwalt einbehaltene Kosten von Fluggesellschaften zurückfordern oder sich von Apps beim Verfassen von rechtlichen Schreiben unterstützen lassen. Die zugrunde liegende Machine-Learning-Software gleicht die eigenen Worte mit einer rechtlich korrekten Formulierung ab. Das aktuelle Forschungsprojekt „Legal Analytics“ des Bayerischen Staatsministeriums wiederum beschäftigt sich mit der Möglichkeit einer anonymisierten Datenbank von Gerichtsentscheidungen, die Analysen für die Entscheidungen zukünftiger Rechtsfälle erlauben könnte.

KI in der Strafverfolgung

Auch in der Strafverfolgung nimmt Künstliche Intelligenz eine wichtige Rolle ein: KI durchforstet große Datenmengen nach Straftaten wie Kinderpornographie oder Hasskriminalität im Internet. Im Legal-GRC-Umfeld etwa bei der Einhaltung der DSGVO helfen automatisierte Workflows in Kombination mit Robotics- und KI-basierten Löschkonzepten weiter – ob nun ein Dokument erstellt, das Ende einer Frist bestimmt oder das Bestehen eines Anspruchs geklärt werden soll.

Grundlegend gilt, bevor ein Verfahren welcher Art auch immer beginnen kann, müssen zunächst viele administrative Aufgaben erfüllt und große Datenmengen bearbeitet werden. Diese Vorgänge nehmen viel Zeit in Anspruch und sind mitverantwortlich für den Prozessstau in einigen Bereichen. Der Einsatz von KI entlastet die Mitarbeiter deutlich und führt zu einer „Entschlackung“ der Verfahrensabläufe.

Ob es jedoch jemals virtuelle Ermittler oder gar Roboter-Richter geben wird, wage ich zu bezweifeln. Künstliche Intelligenz verfügt (zumindest heute) nicht über die emotionale Intelligenz, die erforderlich ist, um die richtigen Entscheidungen zu treffen. Gerade rechtliche Entscheidungen beziehen sich immer auf ein konkretes Individuum und einen konkreten Einzelfall. Ein Urteil über individuelle Besonderheiten zu fällen, die Fähigkeit zur Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe oder zum Verständnis von Emotionen – dazu ist KI nicht in der Lage. Legal Tech ist aber eine nützliche und durchaus ausbaufähige Technologie, die Abläufe in den Rechtssystemen beschleunigen und die Arbeit erleichtern kann.

Jens Reumschüssel
ist Director of Sales DACH – Public Sector bei Exterro. Zuvor war der Ingenieur in mehreren Positionen bei Siemens, Siemens Nokia, Famic Technologies und Cellebrite tätig.

Roger Homrich

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