Reicht es in einer zunehmend digitalisierten Welt, wie bisher Produkte herzustellen und zu verkaufen? Helmut Scherer, Managing Director der Digital- und Innovationsberatung Futurice, zweifelt. Im Interview sagt er, produzierende Unternehmen würden ihre Business-Modelle verändern und zunehmend auf Service-Modelle setzen. Kunden kaufen eine Maschine nicht mehr, sondern sie bezahlen nach Nutzung, also Pay per use. “Wer sein Geschäftsmodell so verändert, wird in Zukunft der Gewinner sein”, glaubt Scherer.
Gefühlt wird jede Woche eine Studie veröffentlicht, in der Deutschland in puncto Digitalisierung als rückständig bis hinterwäldlerisch bezeichnet wird. Steht es bei uns wirklich so schlecht um die digitale Transformation?
Das Thema digitale Transformation muss etwas differenzierter betrachtet werden. In Deutschland haben viele Unternehmen das Selbstverständnis, dass ihre Technologie – ihr Engineering – den Unterschied im globalen Markt ausmacht. Bisher war das auch richtig so. Zukünftig wird die Top-Maschine oder die Top-Anlage allein jedoch nicht mehr ausreichen. Unternehmen müssen sich stärker in Richtung Customer Experience ausrichten und erkennen, dass digitale Tools oder Enabler für bestehende Produkte mehr zum Geschäftserfolg beitragen. Diese Orientierung und Entwicklung hin zu einem datengetriebenen Unternehmen entwickeln wir für Kunden in Deutschland im Mobilitätssektor, Gesundheitswesen oder unter anderem auch für Bosch im Bereich Maschinenbau.
Eine aktuelle Bitkom-Studie sagt, dass ein Drittel der Unternehmen 2023 weniger Investitionen in die Digitalisierung stecken wollen. Umgekehrt könnte man auch sagen, zwei Drittel wollen mehr investieren.
Mit Blick auf die Branchen, die physische Produkte produzieren, ist das Zurückfahren von Investitionen bedenklich. In der Corona-Krise haben diese Firmen sich sehr stark auf Investitionen in die digitale Infrastruktur und die Konnektivität konzentriert. Jetzt gilt es diese Strukturen auch zu nutzen, damit sich dieser Ausbau auch lohnt. Daher sollten Investitionen in darauf aufbauende Geschäftsmodelle bei diesem Drittel jetzt im Vordergrund stehen.
Neun von zehn Unternehmen stoßen laut einer Bitkom-Studie auf Schwierigkeiten beim Thema Digitalisierung. Es ist erschreckend, dass diejenigen, die digitalisieren wollen, es nicht können. Was sind denn die Gründe dafür?
Ein Stichwort hier lautet: Data Driven Decision Making, datengestützte Entscheidungen. Was hier passiert, ist ganz wichtig. Daten sind plötzlich für jeden verfügbar. Bisher waren sie sehr exklusiv für einen kleinen Kreis bestimmt, der dadurch in der Lage war, Entscheidungen zu treffen. Plötzlich gibt es durch die Digitalisierung eine Demokratisierung der Entscheidungsfindung. Und das ist für manche Unternehmen und Unternehmer so etwas wie ein Attentat. Plötzlich sind es nicht mehr wenige Chefs, die alle Entscheidungen treffen, sondern jeder im Unternehmen trifft Entscheidungen. Das macht schneller und agiler, bedeutet aber Machtverlust für manche Manager. Daher wollen einige die Entwicklung, dass Daten frei zugänglich sind, wieder zurückdrehen.
Es geht also um Machtverlust und Transparenz, da Mitarbeiter an der Maschine sagen können, was die da oben entscheiden, macht wenig Sinn?
Dabei geht es vor allem um Angst und Unsicherheit. Aber diese Umstellung hin zu transparenten Daten und der Befähigung von Mitarbeiter*innen, Entscheidungen zu treffen, ist entscheidend für die Umsetzung neuer Unternehmensstrategien. Ich kann diese Daten dazu nutzen, um herauszufinden, welche Maßnahmen welche Auswirkungen auf meine Strategie und meinen Geschäftserfolg haben. Das schafft ganz neue Möglichkeiten für die Weiterentwicklung von Unternehmen.
Wenn die Maschinen schon digital gesteuert werden, um was geht es denn genau bei der digitalen Transformation?
Investitionen in die Konnektivität, in die Infrastruktur der Vernetzung wurden bereits getätigt. Es fehlen jetzt Investitionen in Geschäftsmodelle, zum Beispiel in die Outcome Economy, also die Bereitstellung von Waren oder Dienstleistungen, die ein individuelles Problem lösen und messbare Ergebnisse erzielen. Wie benutze ich eine vernetzte Maschine, um ein neues digitales Geschäftsmodell zu entwickeln und mich darüber im Wettbewerb zu differenzieren. Das Kernprodukt ist nicht mehr nur die Hardware, sondern die digitalisierte Hardware und das digitale Geschäftsmodell. Und diesen Schritt haben wir in Deutschland noch nicht vollends gemacht, auch wenn inzwischen viele dabei sind. Für Kunden bedeutet das konkret, dass sie sich durch innovative Geschäftsmodelle vom Wettbewerb abheben können, durch neue Angebote mehr Umsatz generieren und den besten – auf ihre Kunden zugeschnittenen – Service bieten können.
Was meinen Sie konkret mit digitalem Geschäftsmodell?
Auch hier wieder ein Beispiel aus unserem Kundenstamm. Wir beraten einen führenden Maschinenbauer, der in der Corona-Zeit sogar mehr in die Digitalisierung investiert hat. Dieser Maschinenbauer hat festgestellt, dass sich seine Maschinen vom Wettbewerb hauptsächlich nur noch durch den Preis unterscheiden. Auf Dauer ist dies kein fruchtbares Geschäftsmodell. Der Maschinenbauer hat aber erkannt, dass seine Kunden – aufgrund des Fachkräftemangels und der schwierigen Situation rund um die Lieferketten – Probleme mit der Reparatur der Maschinen und der Ersatzteilbeschaffung hatten. Daraufhin hat unser Kunde sein Business-Modell verändert und setzt jetzt immer mehr auf Service-Modelle. Kunden müssen die Maschine nicht mehr kaufen, sondern sie bezahlen nach Nutzung, also Pay per use oder über ähnliche Modelle. Für diese Umstellung müssen neue digitale Tools eingeführt werden, die die Daten rund um die Maschinennutzung liefern. Aufgrund der Daten weiß man, welche Teile ausgetauscht werden müssen und welche Services genutzt werden. Der Erfolg des Maschinenbauers ist damit direkt an den Erfolg seiner Kunden gekoppelt. Von einem Lieferanten steigt man so zum Partner auf. Darüber hinaus sind die Profite in diesem Modell höher und können besser gesteuert werden.
Ist dieses Business-Modell erfolgreich?
Ein großer Teil des Umsatzes wird bei unserem Kunden mittlerweile durch dieses Business-Modell gemacht. Die Nachfrage steigt deutlich, vor allem in der Wartung und im After Sales. Außerdem interessieren sich auch andere Unternehmen sehr für das Geschäftsmodell und wollen wissen, wie das gemacht wurde. In einigen Fällen lässt sich dieses Business auch zu einer Plattform weiterentwickeln, die auch andere Anbieter nutzen können. Dies haben wir bereits mit dem finnischen Medienkonzern Sanoma und auch in der Baubranche mit dem Bauunternehmen Fira so umgesetzt. Wenn mir jetzt jemand ein Geschäftsmodell um sein Produkt herum bieten kann, hilft das dem Kunden. Dieser ist nicht nur an einem einzelnen Produkt interessiert, sondern in ein ganzes Ökosystem von Produkten und Services eingebettet, die er nutzen möchte. Wer sein Geschäftsmodell so verändert, dass er nicht nur durch physische Produkte, sondern auch dazu passenden Services einen Platz in diesem Ökosystem einnimmt, wird in Zukunft der Gewinner sein.
Überall steckt heute angeblich KI drin. Mir scheint dies eher ein Buzzword zu sein, mit dem sich Unternehmen innovativ zeigen wollen.
Uns fällt bei solchen Begriffen – von denen es auch einige mehr gibt – auf, dass das Thema dahinter von der falschen Seite angefasst wird. Unternehmen fragen sich oft nicht, welche konkreten Herausforderungen sie mit welcher Technologie bewältigen wollen. Wie sie eventuell ihre Geschäftsmodelle und Systeme mit digitalen Services vorantreiben können. Sie gehen umgekehrt vor: Alle reden von KI, also müssen wir das auch nutzen. Wir empfehlen unseren Kunden, zunächst einmal die Herausforderungen und Probleme zu identifizieren, zu verstehen und zu definieren und danach nach geeigneten Hilfsmitteln zu suchen. Dies kann dann KI sein. Zu sagen: Ich will jetzt KI benutzen, weil KI angesagt ist, führt meist in eine Sackgasse. Bei diesem Prozess unterstützen wir unsere Kunden mit speziellen Toolkits, die diese Hilfsmittel verständlich machen und zeigen, was hinter diesen Technologien steckt.
Sie sprachen eben das Thema Customer Experience an. Als Kunde habe ich das Gefühl, dass es den Unternehmen bei diesem Thema nur darum geht, die Arbeit auf den Kunden zu verlagern – und das auch noch in schlecht. Ist Customer Experience nicht auch ein reines Buzzword?
Dies sehe ich etwas anders und will Ihnen dazu ein Beispiel beschreiben. Wir hatten einen Retail-Kunden, eine Supermarktkette, deren Strategie lange Zeit darin bestand, eine möglichst effiziente Supply Chain zu haben. Dazu gehörte es auch, den Kunden überall die gleiche Shop Experience mit dem gleichen Sortiment anzubieten. Allerdings stieg der Umsatz deswegen nicht. Wir haben das Unternehmen dann gefragt: Wisst ihr eigentlich, was eure Kunden wirklich wollen? Nein, denn es gab keine Daten zu den Kunden und ihrem Kaufverhalten. Wir haben dann gemeinsam einen Service entwickelt, mit dem die Kunden mithilfe einer App eine Shoppingliste erstellen können. Der Effekt war, dass man relativ genau aus den Daten lesen konnte, in welcher Gegend die Kunden welche Produkte kaufen. Bei uns nur Klopapier und Putzmittel und beim Biomarkt schräg gegenüber die teuren Bio-Lebensmittel? Daraufhin hat unser Kunde das Geschäftsmodell gedreht und bietet heute nicht mehr überall das identische Sortiment an. Jetzt gibt es regionale Lieferanten und Ökosysteme in einer regional unterschiedlichen Supply Chain. Das Ergebnis: Innerhalb von fünf Jahren hat sich der Unternehmenswert verdoppelt. Einfach nur durch die Ausrichtung am Kunden. Das ist eines von vielen positiven Beispielen von Customer Experience.
Auf ihrer Webseite wird in schönen Worten beschrieben, was sie anbieten. „Wir unterstützen unsere Kunden dabei, Innovationen durch digitale Produktgestaltung und Entwicklung, neue Technologien, agile Softwareentwicklung und schlanke organisatorische Veränderungen zu entfesseln.“ Das klingt gut, heißt aber nicht viel. Was ist damit gemeint?
In Deutschland sind wir in sehr vielen Industriezweigen vorn dabei, wenn es um technische Produktinnovationen geht. Wir haben sehr große Industriezweige, die davon seit Jahren sehr gut leben. Digitale Innovation funktioniert aber anders als technische Produktinnovation. Es geht vielmehr um Prozesse, die iterativ durchlaufen werden, agile und schlanke Methoden und es geht darum stetig Mehrwert an den Markt zu bringen. Also im Endeffekt macht man jede Woche ein neues Release vom eigenen digitalen Produkt und misst den Erfolg. Dinge, die funktionieren, werden weiterverfolgt. Dinge, die nicht funktionieren, lässt man fallen. Dieses veränderte Herangehen, ein Produkt nicht gleich komplett zu spezifizieren, sondern erst mal mit den Sachen zu beginnen, die ein Problem lösen und von da an weiter zu skalieren. Dies bedeutet digitale Transformation und dafür sind wir Spezialisten.
ist seit 2015 Managing Director Deutschland der Digital- und Innovationsberatung Futurice. Das 2000 in Finnland gegründete Unternehmen entwickelt digitale Lösungen und berät Unternehmen bei der Umsetzung der digitalen Transformation.
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