Automatisierung statt Spaghetti-Bot-Integration
Prozessorchestrierung fügt Automatisierungsinseln zu einem Ende-zu-Ende-Prozess zusammen, sagt Bernd Rücker von Camunda im Interview.
Über 90 Prozent der IT-Führungskräfte haben im Jahr 2022 laut einer Studie von Camunda in die Prozessautomatisierung investiert. Dies soll einerseits die digitale Transformation beschleunigen, stellt Unternehmen aber vor eine neue Herausforderung. Oft entstehen Insellösungen, die Teilprozesse zwar automatisieren, aber den Gesamtprozess aus den Augen verlieren. Ein Interview mit Bernd Rücker von Camunda über die Nachteile dieser Insellösungen und die Ende-zu-Ende-Orchestrierung von Unternehmensprozessen.
Herr Rücker, Automatisierung scheint eines der wichtigsten Themen in den Unternehmen zu sein. Ich dachte, man wäre in einigen Branchen schon weiter, zum Beispiel im Bankenwesen.
Es geht weniger um das Ob, sondern inzwischen eher um das Wie, wenn wir über Automatisierung sprechen. Viele Unternehmen haben schon in die Automatisierung von punktuellen Aufgaben oder Teilprozessen investiert. So bekämpfen sie einen bestimmten Schmerz, da irgendwo noch immer etwas manuell eingetippt oder weitergetragen werden muss. Ein Beispiel: Im Bankenbereich werden Daten teilweise noch manuell von System A in System B übertragen. Dieser einzelne Teilschritt wird dann automatisiert, zum Beispiel mit einem Tool für Robotic Process Automation (RPA). Das funktioniert in der Regel gut und liefert relativ schnell einen messbaren ROI. Deswegen ist diese Vorgehensweise erfolgreich und beliebt.
Aber RPA wird gern als Brückentechnologie bezeichnet. Greift diese Form von Automatisierung nicht zu kurz?
RPA ist überall dort sinnvoll, wo Daten von einem System in ein anderes übertragen werden müssen und es dafür bis dato keine direkten Schnittstellen gab, weswegen man einen Bot benutzt, der grafische Oberflächen fernsteuert. Allerdings bringt ein solcher RPA-Bot nur kurzfristig einen Effizienzgewinn, denn es entstehen viele Insellösungen, die nicht miteinander interagieren oder integriert sind. Die Deutsche Telekom, die sehr viel mit RPA macht, hat das Spaghetti-Bot-Integration genannt. Im Prinzip wird das Chaos, das bisher zwischen Menschen herrschte, automatisiert und auf die Bots übertragen. Damit ist dieser Prozess zwar automatisierter, aber immer noch ein Chaos. Zwar ist das auf eine gewisse Art und Weise besser, weil automatisiert und schneller, aber man hat das Chaos nur zementiert und je mehr Bots dazu kommen, umso unübersichtlicher wird es. Dann noch Änderungen am Prozess durchzuführen, ist ein Ding der Unmöglichkeit, da es keine Übersicht gibt.
Das könnte man dann auch als Pseudo-Automatisierung bezeichnen. Mehr als zwei Drittel der für Ihre Studie befragten Unternehmen geben an, dass es mit zunehmender Aufgabenautomatisierung schwieriger wird, Ende-zu-Ende-Prozesse visuell darzustellen.
Punktuell laufen die Prozesse besser als vorher. Aber das Gesamtspiel zwischen den automatisierten Prozessen funktioniert immer noch nicht wirklich gut. Nur weil ich lokal optimiere, heißt das nicht, dass das Gesamtsystem besser funktioniert.
Prozesse sind nicht schwierig visuell darzustellen, weil es an Möglichkeiten dafür mangelt – sondern weil die Prozesse selbst schon komplex sind. Und das gesamte Zusammenspiel ist es letzten Endes, was den Prozess ausmacht. Hier sprechen wir nicht mehr nur von Automatisierung einzelner Aufgaben, sondern von der Prozessorchestrierung. Dafür wird der gesamte Ende-zu-Ende-Prozess zunächst von allen Stakeholdern, die am Prozess beteiligt sind – meist sind diese aus dem Fachbereich und aus der IT – von Grund auf grafisch modelliert.
Schon allein dieser Schritt kann vielen Unternehmen helfen, die Prozesse besser nachzuvollziehen und zu streamlinen. Doch damit ist es noch nicht getan: Überträgt man das Modell in eine Workflow Engine wie Camunda, sorgt sie dafür, dass die einzelnen Aufgaben im Prozess in der richtigen Reihenfolge zum richtigen Zeitpunkt, vom entsprechenden Endpunkt ausgeführt werden. Die Endpunkte können vielfältig sein, beispielsweise ein System, ein Endgerät oder auch ein Mensch, der eine Aufgabe im Prozess manuell erledigt. Die Prozessorchestrierung sieht sich also den übergreifenden Ende-zu-Ende-Prozess an und fragt, wie sich die Automatisierungsinseln zu einem größeren Ganzen zusammenfügen lassen.
Haben Sie ein konkretes Beispiel?
Wenn ein Kunde einer Bank ein neues Bankkonto eröffnen will, dann müssen gewisse Prozessschritte in einer bestimmten Reihenfolge ablaufen. Das klingt erstmal einfach, ist aber doch etwas komplizierter. Denn es gibt Dinge, die vielleicht parallel ablaufen. Andere Schritte können erst dann angestoßen werden, wenn vorherige Aktionen schon abgeschlossen sind. Oder es tritt eine Ausnahme auf, auf die reagiert werden muss. Dafür bietet sich ein Prozessmodell an. Um ein solches Prozessmodell grafisch zu visualisieren, arbeitet unsere Software mit dem ISO-Standard BPMN. Das steht für Business Process Model and Notation und ist eine international verwendete Modellierungssprache für die Geschäftsprozessmodellierung. Sie dient der grafischen Darstellung von Arbeitsabläufen und erleichtert die Kommunikation und das gegenseitige Verständnis zwischen Fach- und IT-Abteilungen.
Was heißt das bezogen auf die Kontoeröffnung bei der Bank? Dauert das nicht mehr so lang wie bisher?
Die traditionellen Banken registrieren sehr genau, was die digitalen Neo-Banken machen. Dort können Sie ein Konto mit allem drum und dran innerhalb von Minuten eröffnen. Sie haben eine IBAN und können loslegen. So schnell geht das bei den traditionellen Banken nicht. Sie brauchen immer noch mehrere Tage, bei manchen Banken dauert es sogar Wochen. Die haben ein System X für den Adresscheck, ein System Y für die Bonitätsprüfung, dann noch ein Core Banking System etc. pp. Dann gibt es noch ein System für Compliance-Checks oder um Sanktionslisten zu prüfen. Heißt, die Teilprozesse sind automatisiert, aber die Systeme nicht miteinander verbunden. Dazu kommt, dass es auch noch Aufgaben gibt, die manuell von einem Menschen ausgeführt werden. Daher dauert es so lang, ein Konto freizuschalten.
Aber die meisten Unternehmen haben doch längst ERP-Systeme. Führen diese Systeme nicht alle Teilprozesse zusammen?
In den ERP-Systemen ist früher das relevante Geschäft abgelaufen. Hier und da wurde nochmal etwas gecustomized, aber das ERP hat große Teile der Prozesse automatisiert. Das hat sich heute stark verändert, da wichtige Teile der Prozesse mittlerweile außerhalb des ERP-Systems ablaufen. Es sind andere Systeme dazu gekommen, manche Services kommen aus der Cloud.
Das heißt, man hängt nicht mehr an einem Anbieter fest, was zur Studienaussage passt, dass drei Viertel der Befragten sagen, ihr Prozessdesign sei durch proprietäre Sprachen oder Tools unzugänglich.
Es gibt viele Startups, kleine Tools und Services, die sich ganz oft auf ein spezielles Problem fokussieren, und das sehr gut und teilweise auch besser als ein ERP-System machen. Dann muss ich aber wissen, wo ich das in meinem Ablauf, in meinem Prozess eigentlich einsetzen möchte. Und wie bekomme ich es da hinein integriert? Mit einer Orchestrierungslösung kann ich mir den ganzen Prozess von Anfang bis Ende ansehen und genau dort ansetzen, wo ein Tool oder Microservice gebraucht wird, und es über Schnittstellen integrieren. Und wenn ich etwas austauschen muss, dann tue ich es auch nur dort, wo es im Prozess vorkommt. Das macht Änderungen im Prozess auch deutlich leichter.
Das heißt, Sie schauen sich bei einem Projekt in einem Unternehmen an, was es für Systeme im Einsatz hat? Und sie überbrücken dann diese Lücken, die die Automatisierung behindern?
Im Grunde ist es eine Modernisierungsreise bei vielen Kunden. Ein Gesamtprozess wird in seine Teilschritte aufgedröselt: Welche Aufgabe muss in welcher Reihenfolge ablaufen? Diese Frage können oft nur die Menschen beantworten, die diese Aufgabe durchführen. Im nächsten Schritt kann man diese Aufgabe automatisieren, vielleicht durch einen Bot. Damit ändert sich der übergreifende Prozess noch nicht zwingend. Der Bot macht das, was der Mensch vorher gemacht hat. Dann kann ich diesen Bot durch einen echten API-Aufruf ersetzen. Dann ändert sich der übergreifende Prozess immer noch nicht per se. Das kommt vielleicht später. Diese Reise sehen wir bei vielen unserer Kunden: Den Gesamtprozess modellieren, Aufgaben darin punktuell automatisieren und dann den Prozess Ende-zu-Ende orchestrieren.
Gehen Unternehmen auf Sie zu, weil sie sagen, wir haben jetzt hier automatisiert auf Teufel komm raus, aber der Effekt ist nicht in dem Maße eingetreten, wie wir es gerne hätten. Oder gibt es Unternehmen, die kommen und sagen, wir wollen mehr automatisieren und wollen es von Anfang an richtig machen?
Sowohl als auch. Es gibt Unternehmen, deren Automatisierung viel chaotischer ist, als sie sein sollte. Sie sind an einem Punkt, wo sie nicht weiterkommen und dann eine Orchestrierungslösung implementieren wollen, um den Prozess an sich besser zu verstehen und auch um ihn evaluieren und optimieren zu können. Und es gibt in etwa genauso viele Kunden, die aus dem Druck kommen, etwas verbessern zu müssen. Sie müssen zum Beispiel Kontoeröffnungen schneller ermöglichen oder im Rahmen der ISO 20022 Realtime Payments anders umsetzen. Und dann gibt es Kunden, die einen Prozess neu designen wollen. Mit ihnen gestalten wir die Prozessarchitektur von Grund auf, involvieren dabei alle Stakeholder und beteiligten Fachabteilungen und analysieren, sobald der Prozess läuft, genau, an welchen Stellen eventuell Verbesserungsbedarf gibt.
Müssten nicht alle Unternehmen schon längst automatisiert sein?
Da ist echt noch viel Arbeit zu tun. Aber wir sehen deutlich, dass die Nachfrage nach Automatisierung bzw. nach der Optimierung der bestehenden Automatisierung steigt. Nicht nur die schon erwähnten Faktoren wie der Wunsch nach einem verbesserten Kundenerlebnis, sondern auch der Fachkräftemangel zwingt Unternehmen, ihre Prozesse weiter zu automatisieren. Wie ich anfangs gesagt habe, ist es auch keine Frage mehr, ob automatisiert wird, es geht mehr darum, wie. Die gute Nachricht ist, dass es nie zu spät ist, damit zu beginnen. Und jeder Schritt bietet schon einen Mehrwert. Von der ersten Prozessmodellierung über die Automatisierung von Aufgaben bis hin zur Ende-zu-Ende-Orchestrierung.
Bernd Rücker
ist Mitgründer von Camunda, Anbieter von Software zur Prozessorchestrierung. Als Softwareentwickler hat er die Prozessautomatisierung von Zalando, Deutsche Bahn oder Deutsche Telekom unterstützt. Er ist Autor von „Practical Process Automation“ und Co-Autor des „Praxishandbuch BPMN“.