Wie Quantencomputing die Chemie- und Pharmaindustrie neu definiert

Unternehmen sehen konkrete Chancen für die Entwicklung revolutionärer Medikamente und umweltfreundlicher Materialien, sagt Gastautor Erik Garcell von Classiq.

Der Schlüssel zur Entdeckung neuer Medikamente und chemischer Stoffe liegt darin, die Reaktionen zwischen verschiedenen Materialien und Katalysatoren zu verstehen. Früher konnten Wissenschaftler nur durch Laborexperimente dazu forschen. Mittlerweile sind computergestützte Methoden und Molekularmodellierung unverzichtbar geworden, um die jeweiligen Reaktionen zu simulieren und so die Entdeckung neuer Verbindungen zu beschleunigen.

Die aktuell genutzten Supercomputer stoßen hierbei jedoch oftmals an ihre Grenzen. Um Simulationen durchzuführen, müssen Forschende daher bestimmte Parameter meist vereinfachen, was die Genauigkeit der Ergebnisse beeinträchtigt. Die Folge:  Viele chemische Reaktionen lassen sich nur durch zeitaufwändige Experimente im Labor präzise testen.

Präzisere Simulationen durch Quantencomputer

Die Quanteninformatik verändert die Situation.  Diese Technologie wird es in absehbarer Zeit möglich machen, die Quanteninteraktionen zwischen verschiedenen Atomen zu simulieren, was ein tiefgreifendes Verständnis natürlicher Phänomene ermöglicht. Quantencomputer werden in der Lage sein, diese komplexen Interaktionen zu steuern und dadurch präzisere Simulationen ermöglichen, was wiederum die Entdeckung neuer chemischer Reaktionen beschleunigt.

Während in anderen Anwendungsbereichen die Debatte über die Einsatzmöglichkeiten von Quantentechnologie noch andauert, steht das Potenzial für die Chemie- und Pharmaindustrie bereits fest. Beispielsweise hat BASF in Quantencomputer-Start-ups investiert und mit neun anderen deutschen Unternehmen ein Konsortium gebildet, um chemisch-industrielle Anwendungen für Quantencomputer zu erforschen. Währenddessen untersucht Ford, wie Quantencomputing Materialien für die nächste Generation von Batterien für Elektroautos identifizieren kann. Zudem hat der Basler Pharmakonzern Roche eine Quanten-Taskforce für die Biomedizin ins Leben gerufen.

Chance auf einen ausgewogeneren Wettbewerb

Vor allem in der Pharmaindustrie ist jede Entdeckung das Ergebnis immenser Investitionen, unermüdlicher Anstrengungen und modernster Fachkenntnisse. Nun tritt Quantencomputing als Katalysator für einen grundsätzlichen Wandel auf, der verspricht, die Forschung zu beschleunigen und dabei zeitgleich die Kosten zu senken. Auch der Aufwand für die Medikamentenentwicklung könnte durch den Einsatz von Quantencomputern sinken.

Anstatt sich einen eigenen Quantencomputer anzuschaffen, werden die meisten Unternehmen aus Kostengründen zu Beginn eher über eine Cloud mit bereitgestellter Quantentechnologie interagieren. Plattformen wie etwa AWS stellen daher eine entscheidende Infrastruktur für das Quantenzeitalter dar. Wo früher finanzielle und technologische Barrieren standen, bietet die Cloud nun einen demokratisierten Zugang zum Quantencomputing. Das eigene Kapital ist nicht mehr ausschlaggebend: Innovative Start-ups und akademische Einrichtungen können so mit den Giganten der Industrie Schritt halten. Zudem steigt die Anzahl potenzieller Innovationen und damit auch die Chance auf einen ausgewogenen Wettbewerb, der wiederum die Verbraucherpreise sinken lässt. 

Ethik der Quantenmedizin

Die Einführung von Medikamenten, die mithilfe von Quantentechnologie entwickelt wurden, könnte jedoch erstmal auf Zurückhaltung stoßen. Wie bei generativer KI, rufen neue Technologien oft Skepsis hervor, die durch Medienhypes, aber auch fundierte Bedenken genährt werden.

Jedoch unterliegt jedes Medikament, auch das mithilfe von Quantencomputern entwickelte, denselben Protokollen, Kontrollen und Validierungen durch Regulierungsbehörden wie die Europäische Arzneimittelagentur. Selbst das Risiko von Nebenwirkungen bleibt bestehen, denn auch Quantencomputer können die Interaktion eines Moleküls mit allen erdenklichen weiteren Stoffen und Systemen noch nicht exakt vorhersagen.

Es wird jedoch erwartet, dass sich das Testen eines Medikaments aus der Quantenforschung einfacher gestaltet als bei traditionell entwickelten Medikamenten. Diese Tests lassen sich auf anderen Quantenplattformen reproduzieren, so dass keine zeitintensiven Laborexperimente mehr nötig sind. Die höhere Genauigkeit der Simulationen garantiert ein optimiertes Moleküldesign, was die Validierung des Medikaments vereinfacht und beschleunigt.

Die nächsten Schritte für die Industrie

Die Chemie- und Pharmazieindustrie haben bereits ein Auge für die Fortschritte des Quantencomputings. Doch wie sieht eine angemessene Vorbereitung auf das Quantenzeitalter aus, insbesondere da sich die Technologie derart dynamisch weiterentwickelt?

Es ist strategisch sinnvoll, jetzt ein Team zusammenzustellen, das sich intensiv mit dem Übergang zum Quantenzeitalter befasst. Dieses Team sollte Quanteninnovationen im Auge behalten, Schlüsselwerkzeuge identifizieren und die Mitarbeitenden in diesem technologischen Wandel entsprechend schulen. Es sollte zudem Quantenanwendungen erforschen, die für die Organisation relevant sind, und dabei gezielt Algorithmen zur Umsetzung auswählen. Hierbei ist es wichtig zu prüfen, wo sich die Umstellung auf Quantencomputer lohnt, denn diese sind zwar deutlich schneller in der Ausführung von Berechnungen, aber verursachen gleichzeitig mehr Aufwand für die Datenübertragung. Mit einem Grundverständnis für Quantentechnologie sind Unternehmen also befähigt, die passende Hardware für ihre Bedürfnisse auszuwählen.

Als Schlüsseltechnologie ebnet Quantencomputing der chemischen und pharmazeutischen Industrie den Weg für Innovationen, die heute noch unerreichbar sind. Der Einsatz von Quantencomputern wird den Wettbewerb ankurbeln, neue Märkte schaffen und in der Chemie- und Pharmabranche die Forschungs- und Behandlungsmethoden optimieren, wodurch unsere Lebensqualität steigen wird.

 

Erik Garcell

ist Technical Marketing Director bei Classiq.