KI ist kein IT-Projekt, sondern ein Veränderungsprozess

Fallstricke, Voraussetzungen und warum es beim Thema KI nicht um Tools, sondern um Struktur und Haltung geht, erklärt Dirk Wolters von NeTec im Interview.

56 Prozent der Geschäftsführer im deutschen Gesundheitswesen planen, innerhalb der nächsten drei Jahre in generative KI-Technologien zu investieren, obwohl bisher viele KI-Projekte im Krankenhausumfeld scheitern. Wie lässt sich das erklären?

Dirk Wolters: Weil der Startpunkt häufig der falsche ist. Statt mit einer klaren Zieldefinition beginnt alles mit dem Wunsch nach Innovation oder schlicht dem Kauf einer Software. Das klingt modern, führt aber selten zu nachhaltigem Erfolg. Es braucht ein realistisches Verständnis der eigenen Organisation: Welche Prozesse sind wie dokumentiert? Welche Daten liegen überhaupt vor, und in welchem Zustand sind sie? Gibt es ein gemeinsames Verständnis darüber, was eigentlich erreicht werden soll?

Häufig fehlt diese Klarheit. Projekte starten unter Schlagworten wie „Wir wollen Prozesse automatisieren“ oder „KI ausprobieren“. Solche Formulierungen lassen sich gut in Gremien kommunizieren, aber sie sind kein solides Fundament für ein Projekt, das Ressourcen bindet und tief in bestehende Arbeitsweisen eingreift.

Ein weiterer Punkt ist die fehlende Verantwortung. Wer steuert das Projekt fachlich? Wer verantwortet die Daten? Wer überprüft, ob die Ergebnisse überhaupt belastbar sind? Oft bleiben diese Fragen offen oder werden in die IT geschoben. Aber KI ist kein IT-Thema. Sie betrifft die Versorgungsrealität, den Pflegealltag und die ärztliche Verantwortung, weshalb sie auch interdisziplinär gedacht und umgesetzt werden muss. Ohne diese Verzahnung bleibt KI eine theoretische Übung mit dem Risiko, dass sie im Alltag keine Wirkung entfaltet.

Was sind typische Fehlannahmen?

Dirk Wolters: Ein weitverbreiteter Denkfehler ist die Vorstellung, dass KI einfach „oben drauf“ gesetzt werden kann. Doch genau das funktioniert nicht. Wenn die KI nicht in bestehende Prozesse eingebettet wird, entsteht ein Medienbruch, bei dem die Ergebnisse nicht zur Arbeitslogik passen, nicht verstanden, genutzt oder sogar abgelehnt werden. Und das hat nichts mit Technikangst zu tun, sondern mit Erfahrung. Menschen im Klinikbetrieb merken sehr schnell, wenn ein Tool keinen praktischen Nutzen bringt und zusätzlichen Aufwand erzeugt.

Ein anderer Trugschluss ist, dass KI automatisch mitlernt und sie von selbst besser wird, wenn man sie nur „laufen lässt“. In der Realität ist es genau umgekehrt: Machine Learning braucht gepflegte Daten, klare Strukturen, Überwachung und im Zweifel auch Korrektur. Wenn diese Voraussetzungen fehlen, entstehen keine besseren Ergebnisse, sondern systematisierte Fehler, die in einem Umfeld wie der Medizin besonders kritisch sind.

Auch die Einschätzung der eigenen Datenbasis ist häufig zu optimistisch. Viele Kliniken gehen davon aus, dass ihre lokalen Daten ausreichen, um ein KI-Modell zu trainieren. Das tun sie aber nicht. In der Regel ist die Datenlage zu klein und zu spezifisch, um robuste Modelle zu entwickeln. Für robuste Modelle braucht es übergreifende Datenpools mit gemeinsamen Standards und eine abgestimmte Datenarchitektur. Datenschutz, Interoperabilität und Governance sind hier keine Fußnoten, sondern Grundvoraussetzungen.

Was bedeutet es, als Klinik wirklich bereit für die KI zu sein?

Dirk Wolters: Es bedeutet vor allem eins: Die Rahmenbedingungen sind so gestaltet, dass KI nicht nur eingeführt, sondern auch sinnvoll genutzt werden kann. Das klingt einfach, ist in der Praxis aber ein echter Reifeprozess.

Technisch heißt das, dass die Klinik eine IT-Infrastruktur hat, die Daten standardisiert, miteinander vernetzt und maschinenlesbar zugänglich macht. Es gibt definierte Schnittstellen, klare Datenformate und die Fähigkeit, Informationen aus unterschiedlichen Systemen zusammenzuführen.

Organisatorisch braucht es definierte Rollen: Wer verantwortet die Datenqualität? Wer beurteilt, ob ein Modell klinisch sinnvoll ist? Wer trägt die Verantwortung, wenn Entscheidungen auf KI-Empfehlungen beruhen? Das muss nicht nur geklärt, sondern auch von der Führung mitgetragen werden.

Und dann ist da noch die strategische Dimension: Es reicht nicht, KI einzuführen, „weil es alle tun“. Es braucht ein konkretes Zielbild: Wo liegt das Problem, das wir lösen wollen? Welcher Nutzen ist realistisch? Und wie bringen wir das mit unseren Ressourcen, unserer Kultur und unseren Prozessen zusammen? Nur wenn diese Fragen beantwortet sind, kann ein Projekt auch in den Alltag übergehen.

Und wie lassen sich Prozesse so gestalten, dass sie KI-fähig werden?

Dirk Wolters: Der Schlüssel liegt in der strukturierten Auseinandersetzung mit den eigenen Abläufen. Viele Kliniken haben Prozesse, die zwar „funktionieren“, aber nicht KI-fähig dokumentiert sind. Es gibt beispielsweise keine einheitlichen Begriffe, keine sauberen Zeitstempel und keine durchgängige Digitalität. Das mag im Alltag praktikabel sein, ist für die KI aber ein k.o.-Kriterium.

Was es braucht, ist eine saubere Prozessmodellierung: Was passiert wann, durch wen, mit welchem Ziel, und welche Daten fallen dabei an? Diese Daten müssen dann nicht nur erfasst, sondern auch in den Kontext eingeordnet werden. Das gelingt nur, wenn man den Prozess nicht isoliert betrachtet, sondern als Teil eines übergeordneten Versorgungswegs. Gleichzeitig darf der Aufwand für die Mitarbeitenden nicht steigen. Eine zusätzliche Eingabemaske wird nicht genutzt, wenn sie keinen direkten Mehrwert bringt. Deshalb braucht es intelligente Erfassungswege, z. B. über bestehende Dokumentationspunkte, die so optimiert werden, dass die Daten daraus direkt für die Analyse und Automatisierung verwendet werden können. Das hilft nicht nur der KI, sondern verbessert auch die Versorgungsqualität und entlastet das Personal.

Ist jetzt überhaupt der richtige Zeitpunkt, um mit KI zu starten?

Dirk Wolters: Absolut. Gerade jetzt. Die Technologie entwickelt sich weiter, das ist unumstritten. Aber die Strukturen, um sie sinnvoll zu nutzen, entstehen nicht über Nacht. Eine Klinik, die heute keine dokumentierten Prozesse, keine Datenstrategie und keine klare Governance hat, wird auch in drei Jahren keine KI „einfach anschalten“ können.

Der richtige Weg ist nicht, auf das perfekte System zu warten – sondern jetzt mit realistischen Projekten zu beginnen. Beispielsweise könnte mit einem strukturierten Prozess in der Notaufnahme oder einer automatisierten Erfassung von Diagnosen gestartet werden. Solche Projekte erzeugen nicht nur unmittelbaren Nutzen, sondern schaffen auch Erfahrung, Vertrauen und organisatorische Reife. KI wird das Gesundheitswesen nicht revolutionieren. Aber sie kann helfen, es effizienter und sicherer zu machen, wenn wir die Voraussetzungen dafür schaffen. Und damit muss man nicht warten, sondern strukturiert starten.

 

Dirk Wolters

ist Inhaber, Geschäftsführer und Leiter des Geschäftsbereichs Consulting bei der NeTec GmbH. 

 

 

 

 

Anzeige