Hochrangiges
Das war wieder eine Woche: Einen veritablen Senior Vice President hat der Schreiber interviewt.
So jemand ist eine ganz herausragende Persönlichkeit. Zumindest aus dem Heer der unzähligen Vice Presidents, die sich in der IT-Branche tummeln, ragt er heraus, weshalb es denn auch des dreiwortigen Titels bedarf, um seine Bedeutung zu unterstreichen.
Eigentlich war das Interview ja mit dem Distinguished System Engineer des Unternehmens vereinbart, der zugleich als Senior Technology Evangelist firmiert, was aber nicht zustande kam, wahrscheinlich weil sowohl dessen Head of Press and Public Relations, als auch der zuständige PR Key Account Manager der von dem Unternehmen beauftragten Agentur für Kommunikation versuchten, das zu organisieren. Da musste es einfach daneben gehen. Leute, die so schwer an sperrigen Titeln zu tragen haben, können schließlich nicht auch noch arbeiten.
Eine Junior PR-Consultant war ebenfalls involviert. Die mühte sich redlich. Aber sie durfte natürlich bei einer derart hochrangig angesiedelten Angelegenheit nicht wirklich mitreden.
Und so kam es denn, dass der Schreiber bei besagtem Senior Vice President Antwort auf seine Fragen suchte. Zuvor aber fragte er sich. Und zwar: Was treibt diese Leute bloß um, dass sie – auch außerhalb der Faschingszeit – solch pompöse Titel führen?
Selbst der scharfsinnigste Analytiker menschlicher Schwächen bleibt da die Antwort schuldig. “Jeder Mensch hat eine Leber, eine Milz, eine Lunge und eine Fahne”, schrieb Kurt Tucholsky (Kaspar Hauser, Weltbühne Nr. 24 vom 16.6.1931). “Es soll Menschen ohne Leber, ohne Milz und mit halber Lunge geben; Menschen ohne Fahne gibt es nicht.”
Der große Tucholsky vergaß hinzuzufügen: Der Mensch hat auch einen Rang. Und für sein Ego ist jener oft wichtiger als der Kopf.
Die Rangordnung ist dem Menschen heilig. Das geht ja schon aus dem gebräuchlichen Fremdwort dafür hervor: Hierarchie heißt, wörtlich übersetzt: “heilige Ordnung”. – Nur über deren praktischen Nutzen macht man sich halt so seine Gedanken.
In der Heimstatt aller Hierarchien, dem Militär, ist es ja noch einsichtig, was einem ein Rang bringt. Jeder, der bei der Bundeswehr war, weiß: Der dort anwesende Teil der Menschheit wird in drei Kategorien eingeteilt. Und um zu erkennen, welcher jemand angehört, genügt schon ein kurzer Blick auf seine Schulter.
Diejenigen, die dort nur Balken haben oder gänzlich bloß sind, nennt man Mannschaftsdienstgrade. Sie trinken Abends ihr Bier in tristen Kantinen.
Die mit hufeisenförmigen Abzeichen auf der Schulter und jene mit Hufeisen, Winkeln und Rauten heißen Unteroffiziere. Sie zechen in schon sehr viel gemütlicher eingerichteten so genannten Uffz-Heimen.
Die mit den Sternen auf den Schulterstücken schließlich gehen ins Offiziers-Casino. Und dort werden sie von solchen mit Balken bedient.
Auch in Redaktionen ist die Sache klar. In Anlehnung an Kurt Tucholsky könnte man sagen: Jede Redaktion besteht aus Leuten, die schreiben, und aus einem Chefredakteur. Es soll Redaktionen geben, in denen keiner richtig schreiben kann. Aber eine Redaktion ohne Chefredakteur gibt es nicht.
Und darüber hinaus existieren noch leitende und geschäftsführende Redakteure (Senior und Managing Editor), stellvertretende Chefredakteure und Stellvertreter des Chefredakteurs, CvDs (Chef vom Dienst) und Ressortleiter.
Eine schlecht organisierte Redaktion hat oft eine ausgeprägtere Hierarchie als eine Kompanie Soldaten. Aber es leuchtet ein, dass das nützlich ist – für den Verleger. Denn den kommt es günstiger, mit phantasievollen Rängen verbundene Ämter zu vergeben, als ordentliche Gehälter zu zahlen.
Sowas funktioniert, weil gerade Journalisten oft ein äußerst pflegebedürftiges Ego haben. – Na ja, was einem halt so durch den Kopf geht, wenn man auf einen Senior Vice President wartet.
Jener gab sich übrigens sehr jovial. Die Fragen des Schreibers beschied er meist lobend mit “excellent question” und glaubte offenkundig, sie damit hinreichend beantwortet zu haben. Und wenn der Schreiber nachhakte, um doch zu ergründen, welche technologische Strategie das Unternehmen des Senior Vice President verfolgt, dann antwortete jener mit: “We listen to our customers.” – So verlaufen Interviews mit hochrangigen Persönlichkeiten aus der IT-Industrie häufig.
Karl Friedrich Wilhelm Wander (1803 – 1879), der große Sammler deutscher Sprichworte muss geahnt haben, dass solche Leute nachkommen. Ihm wird der Satz zugeschrieben: “Wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er allerdings Verstand; da aber die wenigsten Ämter von Gott besetzt werden, so darf man sich nicht wundern, wenn man sehr häufig das Gegenteil findet.”
Aber dieser Wander war schließlich nur Hilfslehrer, bevor man ihn sogar nach 1848 als “Aufwiegler und Verführer zu Aufruhr und Rebellion” aus dem Schuldienst entfernte. Was will man von so einem Loser auch schon anderes erwarten.