High-Tech-Öbszönitäten

Fernsehen ist ja sehr lehrreich. Was man beispielsweise lernt: Das Geld liegt mitnichten auf der Straße. – Es liegt in der Gosse.

Jedenfalls versuchen die Programm-Macher ganz offenkundig, es daraus in großen Mengen zu bergen. Es schmuddelt – menschelt, sagen dazu beschönigend die modernen Midas’, deren Job es ist, zwischenmenschlichen Schmutz zu Gold zu machen.
Früher gab’s das ja alles nicht. Da brachten Nobel-Quizmaster wie Hans-Joachim Kuhlenkampf die Quoten. Und wenn während der Ausstrahlung eines Durbridge-Krimis die Straßen wie ausgestorben waren, dann löste auf den Bildschirmen in den Wohnzimmern ein Gentleman von einem Scottland-Yard-Kommissar seinen Fall. Und seinen Vorgesetzten sprach er mit “Sir” an. Selbst das Viehzeug im Fernsehen war damals edel und gut. So wie Lassie und Fury.

Dann kam das Privat-Fernsehen, in dessen Anfangszeit sich vorwiegend schöne Menschen – also Frauen – nackt auszogen. Einige sprachen Unverständliches über mysteriöse Europunkte. Andere erkannte man wieder aus noch früheren Tagen, als solche Filme nur im Kino gezeigt wurden – sofern es einem mal geglückt war, in so einen Film reinzukommen, mit hochrotem Kopf, Angstschweiß auf der Stirn und gefälschtem Schülerausweis in der Tasche.

War aber wirklich nicht anstößig – die Tutti-Frutti-Ära der deutschen Fernsehgeschichte. Zwar paaren sich Hominiden ab einer bestimmten Entwicklungsstufe in der Regel nicht in der Öffentlichkeit. Aber im Fernsehen ist ja alles nur gespielt.

Wirkliche Intimitäten gab’s damals denn auch nicht im Fernsehen. Der Name sagt’s ja schon: Das Wort kommt von lateinisch “intimus”, das Innerste. Sowas trägt der Mensch inwendig mit sich herum – in seiner Psyche – und nicht außen auf dem Körper. Es ist also nicht schlimm, wenn so einer – weil wohlproportioniert und schön anzuschauen – einmal nackt im Film gezeigt wird.

Aber der Mensch betrachtet es als Angriff, wenn jemand sein Innerstes nach außen kehren will. Und nur in sehr intimen Situationen gibt man ja etwas davon preis, was aber wegen besagter Entwicklungsstufe meist unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindet.

Jetzt aber ziehen die Macher im Fernsehen die Leute noch weiter aus. Zum Gaudium des Publikums unterziehen sich geschlechts-, aber ansonsten wenig reife Personen, die von ihren ebensolchen Partnern eines Seitensprungs bezichtigt werden, vor laufenden Kameras einem Lügendetektortest.

Und jeder Schmuddel-Sender hat inzwischen seine eigene Vaterschaftstest-Show. In der Werbepause dann werden eine kostenpflichtige Telefonnummer eingeblendet und die Zuschauer aufgefordert, anzurufen und die Frage zu beantworten, womit man eine Vaterschaft nachweisen kann: a. mittels eines DNA-Tests, b. durch einen Alkoholtest. (Das hat sich wirklich ein Programm-Verantwortlicher ausgedacht. Die Phantasie eines Glossen-Schreibers reicht dazu nicht aus.)

Aber seine Mitmenschen bloßzustellen, hatte ja schon immer einen großen Unterhaltungswert. Im Mittelalter stellte man sie dazu nackt an den Pranger. Heute ist man da weiter. Da geht der Mob seinen Opfern nicht nur an die Wäsche, sondern an die DNA und ans Unterbewusstsein. Und das nicht nur aus Spaß an der Schadenfreude, sondern auch aus edleren Motiven. Das Streben nach wirtschaftlichem Erfolg – vulgo: Kohle machen – rechnet man da ja allgemein dazu.

Die Saarbrücker Firma Projectcom beispielsweise hat unter der Überschrift “Orvell im Netzwerk” eine Seite ins Web gestellt, auf der sie jedoch nicht – wie man meinen könnte – sich orthographisch falsch, aber richtig besorgt zur Überwachung in Computernetzen äußert. Eigentlich im Gegenteil: Sie bietet ein Tool dafür an.

“Protokollieren Sie, ob und in welchem Umfang das Internet am Arbeitsplatz für private Zwecke genutzt wird”, umwirbt sie Chefs, die ihren Malochern auf die Finger schauen wollen. “Orvell wurde dazu entworfen, alle Computeraktivitäten automatisch aufzuzeichnen und zu speichern: jede Internetseite, jeder Chat, jede Anwendung, jeder Tastenanschlag, jede E-Mail … Auf Wunsch völlig unsichtbar.”

Das hätte sich der Warner vor der totalitären Überwachung – Orwell mit w – auch nicht träumen lassen, dass sein Name einmal als Werbegag für ein Überwachungsprogramm verhohnepipelt würde (und seine Schreckensvision – Big Brother – für eine Schmuddelshow im Fernsehen).

Winston heißt ja Orwells Romanheld mit Vornamen. Der, dem in “1984” ein Käfig mit ausgehungerten Ratten über den Kopf gestülpt wird, weil Big Brothers Schergen Winstons intimus genau kennen und wissen, dass sie ihn mit dieser Methode entmenschen können, indem sie ihn dazu bringen, seine Geliebte zu verraten.

Bei Projectcom ist Winston der Name eines Programms. Es “zeichnet unbemerkt im Hintergrund alle PC-Aktivitäten auf und versendet regelmäßig detaillierte Berichte der PC-Nutzung an Ihre E-Mail-Adresse”.

In Großbritannien plant man Sexualstraftätern einen Chip zu implantieren, um sie umfassend überwachen zu können. Da haben viele Verständnis dafür. Betrifft einen ja nicht. Man ist schließlich kein Triebtäter.

Aber auch Leute mit einem sozial-verträglichen Sexualverhalten werden vielleicht bald mit RFID-Chips (Radio Frequency Identification) in der Kleidung herumlaufen. Kleinen Sendern, die Handelsunternehmen derzeit testen. Texas Instruments hat letzten Monat einen entwickelt, dem sogar eine chemische Reinigung nichts ausmacht.

Und bei Bayer müssen sich Lehrstellenbewerber einem Urintest unterziehen. Die Chefetage will halt wissen, womit sich die Azubis so antörnen.

Eigentlich ist ja toll, dass man heutzutage so viel machen kann. Aussagekräftige Log-Files sind schließlich vom Prinzip her etwas sehr Nützliches. Diese RFID-Chips könnten den Aufwand für die Warenwirtschaft senken. Und wenn man beim Arzt ein gelbes Röhrchen abgegeben hat und der Doktor einem gesagt hat, dass Leber, Nieren und Galle noch ordentlich arbeiten, dann ist man richtig froh, dass es soviel wissenschaftlich-technischen Fortschritt gibt.

Na ja, und was den Missbrauch anbelangt: Wir leben schließlich in einem Rechtsstaat. Warum aber, so fragt man sich dann wieder, belangt man den Chemie-Konzern, der Halbwüchsige zwingt, sich durch’s Ins-Gläschen-Pinkeln zu offenbaren nicht wegen Nötigung (§ 240 StGB)? Und diese Saarbrücker Firma, die müsste man doch wegen § 189 StGB – Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener – vor Gericht stellen. Deswegen wenigstens.