Was bin ich?
Bis eben gerade ging die Veranstaltung. `s Übliche: Deutsche Firmenvertreter versuchen, dem ebenfalls hiesigen Publikum in schlechtem Englisch – der Konferenzsprache – ihre Marketing-Strategien zu verkaufen. “European Identity Conference” nennt sich so was dann. In München hat sie diese Woche stattgefunden.
Was einem bei solchen branchentypischen Kaffeefahrten immer wieder auffällt: Alle reden, als nähmen sie an einem philosophischen Colloquium teil – oder vielleicht besser – an einem Proseminar. Ständig entdeckt jemand ein Paradigma oder eine Heuristik.
Und manchmal wechselt ein Vortragender sogar die Disziplin, gerät zum Evangelisten und verkündet seine Botschaft. Dabei geht’s doch bloß um – meist löchrige – Software und vielleicht noch um ein bisschen Krypto-Hardware.
Gut, das Identitätsproblem, also das mit dem Ich, treibt die Menschheit schon seit den Vorsokratikern um. Aber die IT hat nun wirklich nichts zu seiner Lösung beigetragen. Im Gegenteil: Den Identitätsdiebstahl ermöglicht hat sie.
Da tut es gut, nach so einer Woche sich noch eine Mass unter Kastanien zu gönnen, um einmal in angemessener Umgebung und Ruhe über die Sache nachzudenken. “Die menschliche Seele ist eine Art geistiger Automat”, postulierte Gottfried Wilhelm Leibniz 1710. Deshalb ist es richtig, nach dem Mann Rechenzentren zu benennen und ihm ein ehrendes Andenken zu bewahren für die Erfindung der Rechenmaschine, aber nicht für seine Psychologie.
Sehr viel sympathischer ist da schon der berühmte Ausspruch von René Descartes: “Cogito ergo sum.” – Ich denke, also bin ich.
Wenn man da noch das zentrale Verb durch die gefälligere Wortschöpfung von Kurt Tucholsky “denkeln” ersetzt, dann hat man’s. Im Biergarten zu sitzen und zu denkeln, mag zwar nicht die höchste Form des Seins darstellen. Aber das Ich fühlt sich dabei doch immer sauwohl.
Und wie die Mädels wieder aussehen an so einem Frühlingsabend! Der jetzt eigentlich fällige Bezug auf Platon entfällt deshalb an dieser Stelle.
Überhaupt: Was sich die Leute manchmal so denken, das wundert einen schon. In China gab es Anfang der Woche Verletzte, als wegen des iPad 2 Apple-Stores gestürmt wurden. Eigentlich sollte man ja meinen, die Leute dort hätten genug von ständiger Überwachung und davon, dass sie nicht machen können, was sie wollen. Und dann kaufen die sich freiwillig ausgerechnet solche Gadgets.
Das lässt sich wohl nur mit Jean-Jacques Rousseaus Erkenntnis aus Émile erklären: “Keine Unterwerfung ist so vollkommen wie die, die den Anschein der Freiheit wahrt.”
Man stelle sich nur einmal vor – quasi als philosophische Übung in der Disziplin der Spekulation – die Volkszählung von 1987 hätte erst stattgefunden, nachdem die Leute sich an Datensammler wie Apple, Google und Facebook gewöhnt hätten. Womöglich wären die Proteste und Klagen ausgeblieben. Und dem Bundesverfassungsgericht wäre es verwehrt geblieben, mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung Geschichte zu schreiben.
Es ist doch einfach bizarr, wie dreist ausgerechnet die Konzerne, die nichts über sich herauslassen, die persönlichen Daten von Kunden und Nutzern abgreifen. Das führt zu einer existentiellen Frage, zu jener nach der – tendenziell prekären – Existenz eines freien Zeilenschreibers: Gibt es dafür überhaupt eine Berechtigung?
Es gibt! Man muss doch über Apple, Google und Konsorten schreiben. Denn wie hat es Albert Camus im Mythos des Sisyphos so schön formuliert: “Das Absurde hat nur insofern einen Sinn, als man sich nicht mit ihm abfindet.”
Und dieser Sisyphos hatte auch einen verdammt sicheren Job. Dem ging die Arbeit nie aus.
Vielleicht liegt’s ja auch am Bier. Aber diese Erkenntnis gibt einem als Schreiber doch immer wieder ein gutes Gefühl.
Als Glossen-Schreiber ist man deswegen auch notwendiger Weise Marxist, zumindest in dem Sinn, wie es dieser Denker in der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie dargelegt hat: “Man muss diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen bringen, dass man ihnen ihre eigene Melodie vorsingt.”
Apropos: Der Rückblick ist fertig. Die Mass ist leer. Aber ein Hegel-Zitat fehlt noch. Das darf es aber nicht bei der Erörterung philosophischer Fragen.
Deshalb wird der Schreiber auf dem Heimweg noch einen Abstecher an einen Ort machen, für den die Menschen in Bayern so schöne Bezeichnungen gefunden haben wie “Biesel-Center” oder “Befreiungshalle”. Schließlich hat Georg Wilhelm Friedrich Hegel in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften klar erkannt: “Bier treibt den Urin”.