Mittelständische Unternehmen haben einen großen Wettbewerbsvorteil: IT und Business arbeiten meist viel enger zusammen als in Großkonzernen. Diese Nähe schafft Vertrauen, und Führungskräfte finden ein offeneres Ohr, wenn sie ihren Bedarf an neuen IT-Funktionen kommunizieren. Doch hier liegt auch eine Herausforderung. Das durchschnittliche mittelständische Unternehmen beschäftigt 10 bis 30 IT-Experten, von denen circa 12 Prozent Entwickler sind. Die Kapazität der IT, neue Funktionen oder Anwendungen bereitzustellen, ist also begrenzt.
Eine Lösung liegt außerhalb der IT-Abteilung: bei den Mitarbeitern, die zwar keinen IT-Job machen, aber heute technisch versierter sind denn je. Einige können bereits selbstständig kleinere IT-Lösungen neu entwickeln oder bestehende an ihre Bedürfnisse anpassen. Andere haben zumindest an der Universität Programmierkurse belegt und können auf dieser Basis aufbauen. Diese Mitarbeiter können ein sogenanntes Citizen IT-Team bilden und dabei helfen, neue Funktionen schnell und sicher zu entwickeln und bereitzustellen.
Die Citizen IT besteht aus zwei Gruppen: Entwickler nutzen Konfigurationen und Entwicklungsumgebungen, um bestehende Anwendungen zu erweitern. Integratoren verwenden Integrationswerkzeuge, um Verbindungen zwischen Anwendungen aufzubauen, die beispielsweise zeitaufwändige doppelte Dateneingaben vermeiden.
Die Ergebnisse der Citizen IT kann man als Artefakte bezeichnen. Es handelt sich um Konfigurationen, Code, Integrationsskripte und ähnliche Objekte, wie sie auch die IT in ihren Projekten verwendet.
Citizen IT lässt sich allerdings nicht von heute auf morgen umsetzen. Mittelstands-CIOs brauchen eine Strategie, die sich auf vier Elemente konzentriert.
Die professionelle IT-Abteilung wird zögern, Endanwendern Zugang zur gesamten IT-Landschaft zu gewähren – und das zu Recht. Unternehmenskritische und komplexe Systeme sollten in den Händen der Profis bleiben. Citizen IT funktioniert am besten, wenn sie sich auf Bereiche konzentrieren kann, die einen maximalen Nutzen bei minimalem Risiko bieten – beispielsweise die Personalisierung von Dashboards.
Die für das Citizen IT-Team zugänglichen Bereiche müssen also klar abgesteckt werden, ebenso wie die No-Go-Areas. Als CIO darf man dabei auch erst einmal restriktiv sein und mit einem kleinen, stark abgegrenzten Projekt starten. Ist das ein Erfolg, können weitere Bereiche freigegeben werden.
Sobald die Grenzen festgelegt sind, gilt es, nach geeigneten Kandidaten zu suchen. Neueinsteiger mit naturwissenschaftlichem, technischem oder mathematischem Hintergrund sind vielversprechende Kandidaten. Diese bringen meistens schon das technische Verständnis und kritische Denkvermögen mit, um erfolgreiche Citizen ITler zu sein. Ein allgemeines Interesse an Geschäftsprozessen und eine ganzheitliche Sicht auf das Unternehmen zählen ebenfalls zu den Anforderungen.
An Aus- und Weiterbildung führt kein Weg vorbei. Da das Citizen IT-Team hauptsächlich an unternehmensinternen Projekten arbeiten wird, ist „Learning by Doing“ der beste Ansatz. Hier können Mittelstands-CIOs ihre Autonomie nutzen und eine Kultur des Experimentierens und der Zusammenarbeit zwischen professioneller und Citizen IT fördern. Misserfolge und Fehler sind unvermeidbar und müssen als Grundlage für Lernen und Erfahrung behandelt werden.
Unterstützen und reagieren
Damit die Citizen ITler effektiv arbeiten können, benötigen sie Unterstützung der professionellen IT, die bei Fragen und Problemen hilft. Eine schnelle Reaktionszeit ist entscheidend, denn je länger die Antwort braucht, umso stärker sinkt die Motivation. Zudem besteht die Gefahr, dass die Citizen ITler ohne Unterstützung weitermachen und ein kompromittiertes Artefakt produzieren, das zu einem Unternehmensrisiko werden kann.
Der Nettosaldo muss jedoch positiv sein. Wenn die professionelle IT nach einer ersten Investitionsphase mehr Zeit damit verbringen muss, die Citizen IT zu unterstützen, als sie benötigt, um selbst Dienstleistungen zu erbringen, sind Änderungen an Prozessen und Projekten nötig.
Eines muss klar sein: Nicht-technische Experten, die Geschäftsanwendungen modifizieren oder erweitern, können Schwachstellen schaffen. Gut gemeinte Änderungen können zu ungenauen Daten führen, die ineffiziente Geschäftsprozesse verursachen oder – noch schlimmer – Compliance-Vorschriften verletzen.
Die professionelle IT muss deshalb jedes Artefakt der Citizen IT vor dem Einsatz analysieren und ein solides Monitoring aufbauen. Die Hauptmotivation sollte jedoch immer die Unterstützung und Verbesserung der Ergebnisse sein. Es geht nicht darum, den Fortschritt zu erschweren. Selbstverwaltungs- und Selbstaufsichtspraktiken sind gute Möglichkeiten, Citizen ITler zu kontrollieren, ohne sie permanent zu überwachen.
Das Wichtigste zum Schluss: Wenn sich Citizen ITler in Schwierigkeiten bringen, müssen sie gerettet und unterstützt werden – nicht bestraft. Ihre Absichten waren gut und das Lernen aus Misserfolgen ist immer noch die effizienteste und dauerhafteste Form des Lernens.
Christian Hestermann ist Lead Analyst bei Gartner für Geschäftsanwendungen wie ERP oder SCM für mittelständische Unternehmen (MSEs), aber auch für ERP-Systeme für Tochtergesellschaften großer Unternehmen (“zweistufige” Szenarien). Herr Hestermann konzentriert seine Forschung auf Themen über den gesamten Lebenszyklus von Geschäftsanwendungen, von der Strategie und der schrittweisen Architektur über die Auswahl, Implementierung, den Betrieb und das Upgrade. Er ist spezialisiert auf Cloud und SaaS Deployment von Geschäftsanwendungen im Rahmen postmoderner Strategien. Seine Stärken sind operative ERP-Kernsysteme für produktorientierte Unternehmen in verschiedenen Fertigungs- oder Vertriebsbranchen.
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