Volkes Stimme – noch immer ungehört

In den USA ist Web-Monitoring selbstverständlich. Das gilt nicht nur für Unternehmen, die wissen möchten, was über sie geredet wird und welche Wünsche ihre Kunden haben. Was uns die Amerikaner deutlich voraushaben, ist das Zuhören. An dieser Stelle mag mir der ein oder andere Leser schon widersprechen. Aber Obama und Romney haben sich während des Wahlkampfs als die perfekten Zuhörer präsentiert. Sie nutzten Facebook, Twitter & Co. nicht nur als eigenes Sprachrohr (Obama erreichte allein über seinen Twitter-Kanal über 22,5 Millionen Menschen). Das Social Web diente ihnen auch als politisches Frühwarnsystem, als Themenradar, zur Krisenprävention. Der Havard-Professor Nicco Mele bringt die Entwicklung auf den Punkt: “Wir erleben einen Erdrutsch bei der Art, wie Politik das Volk erreicht und wie Politiker die Meinung des Volkes besser in ihre Pläne integrieren.”

Und bei uns? Hier rutscht leider noch herzlich wenig. Das ist schade, denn es lohnt sich, einfach mal die Ohren zu spitzen. Die dafür nötigen Tools gibt es bei uns längst. Zwar hat man spätestens mit dem Aufstieg der Piratenpartei wahrgenommen, dass Facebook, Twitter & Co. Meinungsträger sind. Aber sich diese Meinung anzuhören und zunutze zu machen, geht nur schleppend voran. Markus Ulbig, Sachsens CDU-Innenminister, beschrieb die Beobachtung der öffentlichen Debatte im Internet, um auf Krisen und Besorgnisse der Bürger schnell und sachgerecht reagieren zu können als “zwingende Aufgabe der Regierung”. Sein Vorhaben, sich ein Bild von der Meinung der Bevölkerung zu machen, wurde wieder beerdigt – und zwar umgehend. Die Gegner argumentierten mit datenschutzrechtlichen Bedenken, Kosten-Nutzen-Relation oder damit, man könne ja auch über Google nach Stichworten suchen. Das ist allerdings recht kurz gegriffen.

Denn zum einen: Social Media Listening Tools greifen ausschließlich auf öffentlich zugängliche Daten zu. Zum anderen: einfache Google-Recherchen oder das manuelle Durchstöbern von Twitter kann keinesfalls mit professionellem Monitoring verglichen werden. Das ist genauso erfolgsversprechend, wie die Nadel im Heuhaufen zu finden. Moderne Listening Tools sind nicht nur in der Lage gigantische Datensätze multi-lingual zu lesen, zu interpretieren und in Echtzeit greifbar zu machen sowie visuell darzustellen (Hier finden Sie ein Beispiel zur US-Präsidentschaftswahl). Sie helfen auch dabei die Stimmung widerzuspiegeln, indem sie durch Sentiment-Analysen aufzeigen ob über Themen, Ereignisse oder Politiker mehrheitlich positiv oder negativ diskutiert wird. Skeptiker stellen gerne die Frage: Wollen diejenigen, die ihre Inhalte im Social Web veröffentlichen, gehört und wahrgenommen werden? Sollten Sie einer davon sein: Meinen Sie das ernst? (Ich freue mich auf Ihre Antwort in der Kommentarfunktion)

Internet vs. Fußgängerzone

Im öffentlichen Bereich gibt es viele Themen, die die Gemüter bewegen. Denken Sie an Stuttgart 21 oder aktuell das Volksbegehren zum Nachtflugverbot am Berliner Großflughafen. Sicher, eine Analyse der Diskussionen im Web bildet nur die Meinungen derer ab, die aktiv an Onlinedebatten teilnehmen. Und das mag gemessen an der Gesamtbevölkerung noch eine Minderheit sein. Doch sind wir ehrlich: Es ist eine stark wachsende Minderheit, deren Politikverdrossenheit man noch dazu andauernd rügt. Ich bin davon überzeugt, die Verdrossenheit lässt sich durch Zuhören in Interesse und vielleicht sogar in Motivation wandeln. Sie kennen das aus der Unternehmensführung: wer gehört wird, fühlt sich ernst genommen, damit steigt das Engagement mitzuarbeiten. Dasselbe Prinzip gilt für die Politik. Das potenzielle Publikum ist natürlich wesentlich größer und man kann nicht auf jeden einzelnen hören. Aber wenn man Argumente aufgreift, Strömungen erkennt und darauf entsprechend reagiert, dann hat man bereits – nach dem Zuhören – den zweiten Schritt getan. Wäre schön, wenn Markus Ulbig nicht einer von Wenigen bleibt, der erkannt hat, dass die Stimmen heute im Netz und nicht mehr an den mit Luftballons behangenen Partei-Ständen in der Fußgängerzone zu finden sind.

Bürger setzen schon Zeichen – jetzt muss es nur noch die Politik tun

Vor kurzem bin ich über die Studie “Zwischen Ernst und Unterhaltung” der Politikwissenschaftler Gary Schaal, Claudia Ritzi und Vanessa Kaufmann von der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg gestolpert, wonach politisches Engagement im Internet häufig nicht mit dem Ziel unternommen wird, politische Entscheidungen zu beeinflussen. Die jungen Menschen engagieren sich, “um ein Zeichen zu setzen”, sie haben aber scheinbar nur wenig Vertrauen in die Responsivität des politischen Prozesses – soweit die Studie. Vielleicht liegt das daran, dass keiner zuhört? Kein Wunder also, wenn in der Studie die Netzaktivisten die Internet-Kompetenz der politischen Parteien in Deutschland hauptsächlich als schlecht bewerten.

Mein Appell an die öffentliche Hand: Greifen Sie zu! Die Chancen sind groß. Zu sehen, wie Themen entstehen, sich verändern, welchen Einfluss Argumente und Handlungen auf die Stimmungen haben. Reagieren zu können, bevor die Sache brenzlig wird. Fragen frühzeitig anzusprechen, die immer mehr Menschen bewegen. Damit machen wir Demokratie letztlich direkter. Die Voraussetzung: zuhören! Und im Web bietet sich dafür die beste Gelegenheit – schnell, flexibel und direkt. Genau das tut Social Media Listening: den Puls der Bürger fühlen.

Redaktion

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