Software Defined Vehicle: Echter Mehrwert für Entwicklung, Betrieb und Nutzung

Was ist ein Brand Voice ?

Der Paradigmenwechsel zum „Software-Defined Vehicle“ (SDV) ist mit hohen organisatorischen und fachlichen Herausforderungen verbunden. Ein schrittweises Vorgehen greift zu kurz, gefragt ist ein ganzheitlicher Ansatz. Yves-Antoine Brun, VP und Sector Head Europe bei Wipro Engineering, berichtet im Interview über notwendige strukturelle Anpassungen von Unternehmen und die Vorteile eines digitalen Ökosystems.

Im Automotive-Sektor kommt man zurzeit um das Thema Software-Defined Vehicle nicht herum. Was macht es so relevant?

Yves-Antoine Brun: Dafür gibt es viele Gründe. Die Entwicklung zum SDV wird in erster Linie von Kunden getragen, deren Ansprüche in den Bereichen Connectivity, Convenience und Coolness stetig steigen. Dies wiederum wirkt sich auf die Anforderungen der Innovationsabteilungen aus, die mit klassischen Ansätzen wie dem Scale-out – noch mehr Steuergeräte – längst an Grenzen stoßen, weil die Komplexität überproportional zunimmt. Geschichte wiederholt sich: Smartphones sind nicht allgegenwärtig geworden, weil man überall damit telefonieren kann, sondern weil sie unzählige Apps unter einer Oberfläche zusammenfassen. Bald können Sie auch im Auto einfach eine Sitzheizung für den Beifahrer hinzubuchen oder abbestellen, wenn sich der Beziehungsstatus ändert. Oder Sie schalten zusätzliche PS frei, um im Urlaub einen Wohnwagen ziehen zu können.

Was versprechen sich Hersteller und Zulieferer von der Entwicklung?

Brun: Ein Ziel ist, Fahrzeuge zu mobilen, digitalen Plattformen zu entwickeln, auf denen sich zukunftsfähige Business-Szenarien möglichst effizient, sicher und flexibel verwirklichen lassen. Das geht schneller und günstiger als mit mechanischen oder elektrischen Komponenten, den Ansätzen der vergangenen 100 Jahre. Mit smarten Software-Funktionen legen Sie die Latte höher, sie können das New Normal für Customer Experience im Markt definieren. Aspekte wie eine intuitive Benutzung und mehr Komfort rücken in den Vordergrund, ermöglicht durch innovative Apps und Cloud-Services. Und nicht zuletzt ist Car-Software ein kommender Milliardenmarkt, mit dessen Marge man die Gesamtrentabilität verbessern will. Zudem spart Software Geld, denn statt unzähliger Varianten produziere ich Fahrzeuge, die sich auf Knopfdruck mit Apps individualisieren lassen.

Was ist denn für das Fahrzeug-Engineering drin?

Brun: Neben Kundenbindung und Umsatz können Fahrdaten die Entwicklung und den Betrieb der Fahrzeuge optimieren. Statt nur wenige neu entwickelte Prototypen auf speziellen Testständen zu prüfen, machen Software und Vernetzung jedes Fahrzeug zu einem rollenden Prüfstand. Dabei können in der Entwicklungsphase mehrere hundert GB pro Tag und Fahrzeug anfallen, was die Unternehmen in die Cloud und zum Edge Computing zwingt. Dieser Schritt ist unausweichlich, aber er zahlt sich aus.

Können Sie ein konkretes Beispiel für einen Lösungsansatz im Engineering nennen?

Brun: Ein Werkzeug in diesem Bereich ist das Konzept des ‚lebenslangen Digitalen Zwillings‘, ein virtuelles Abbild der Entwicklungs- und Laufzeitdaten eines Fahrzeugs von der Herstellung bis zur Rohstoffrückgewinnung. Dazu müssen Domänen wie Cloud, Apps, Backend- sowie Entwicklungssysteme eingebunden werden. Schließlich sollen Fahrzeugdaten und Releases den Entwicklern durchgängig und transparent zur Verfügung stehen, etwa für Simulationen – also Smart Engineering. Dies betrifft auch Themen wie Advanced Driver-Assistance Systems und Autonomous Driving (ADAS/AD) sowie neue digitale Services lassen sich so einfacher und schneller umsetzen.

Was bedeutet die Entwicklung zum SDV für die Unternehmen der Branche?

Brun: Niemand kann alle Anforderungen im Wertschöpfungsnetzwerk erfüllen, was die Beteiligten zu einer detaillierten Analyse zwingt: Wo liegen meine Stärken, und welche Kompetenzen muss ich von Partnern beschaffen, um Lücken zu schließen? Der Fokus auf Software verstärkt den Trend zu Kooperationen auf Augenhöhe, um echten Mehrwert für die Entwicklung, den Betrieb und die Nutzung des Autos der Zukunft zu schaffen. In diesem Ökosystem kann ich nicht einfach beim jährlichen Wartungstermin neue Releases aufspielen, ich brauche einen anderen Ansatz: Software bildet den Kern, das Auto wird herum gebaut. Mit der Plattform „Cloud Car Ecosystem“ will Wipro es ermöglichen, dass Fahrzeuge täglich besser werden, um digital relevant zu bleiben.

Bei der Umsetzung hakt es an einigen Stellen. Was ist Ihrer Meinung nach das größte Missverständnis?

Brun: Dass immer noch viele Organisationen glauben, sie könnten schrittweise vorgehen. Es reicht für das Thema SDV nicht aus, in besseren Programmen oder Algorithmen zu denken, die dann im Fahrzeug over-the-Air installiert werden. Auch wenn der Begriff überstrapaziert ist: Unternehmen brauchen bei der Softwareproduktion einen Paradigmenwechsel bezüglich der Strukturen, Arbeitsverfahren, Technologien und Experten. Eine Strategie, die sich auf C++ beschränkt, ist nicht mehr state-of-the-art, zudem schränkt sie den Zugang zu neuen Talenten ein. Das alles führt natürlich zu massiven Verwerfungen und Widerständen. Manche wählen daher eine Trennung: Statt die gesamte Organisation parallel zum Tagesgeschäft neu zu strukturieren, werden moderne Software-Prozesse in einer dedizierten Unit zusammengefasst. Doch auch diese Strategie ist kein Selbstläufer, wie sich gezeigt hat.

Was empfehlen Sie den Verantwortlichen als Vorgehensweise?

Brun: Alle traditionellen Marktteilnehmer sind sich der notwendigen Veränderungen bewusst, sie haben Initiativen für beschleunigte Innovationen gestartet oder Entwicklungsallianzen verkündet. Richtig Fahrt konnten aber die wenigsten aufgenommen, denn wer Software will, muss wie die Softwareindustrie arbeiten. Automotive-Unternehmen sollten daher nicht kleinteilig denken, sondern den großen Sprung wagen und ein eigenes Software-Ökosystem implementieren, eine cloudbasierte Wertschöpfungskette für Daten, Apps und Services in einer passenden Organisation. Dieses Cloud-Car-System hilft, die Transformation erfolgreich zu bewältigen und alle Aspekte von der Chip-Entwicklung über die strategische Beratung und Ressourcenbeschaffung bis hin zur App-Entwicklung neu zu denken.

Was ist der zentrale Vorteil eines integrierten Systems?

Brun: Ein wichtiges Ziel für OEMs und Tier-1-Lieferanten ist eine standardisierte Plattform für Software, die skaliert, ohne dass die Komplexität mit jeder Funktion exponentiell steigt – und mit ihr Kosten sowie Risiken der Entwicklung. Zudem ist es entscheidend, Lieferanten und Komponenten flexibel einsteuern zu können. Dies gilt auch angesichts globaler Absatzmärkte, für die ich Fahrzeuge an unterschiedliche regionale Anforderungen anpassen muss.

Sie fordern einen Wandel ‚aus einem Guss‘. Wer soll den Change in der Organisation leiten, der CTO oder der CIO?

Brun: Das Software-Defined Vehicle ist eine komplexe Aufgabe, die uns bis zum Ende der Dekade beschäftigt und mehr als einen Bereich beeinflusst. Daher sind starre fachliche Silos der Worst Case. Nur wenn IT und Engineering an einem Strang ziehen, kann man die Gesamtorganisation im Blick haben und alle Funktionsbereiche ins Boot holen, um eine effiziente Entwicklung und Produktion zu gewährleisten. Dafür kommt es nicht darauf an, alles selbst zu machen, sondern die technologischen Anwendungen in der Tiefe zu verstehen, diese in einem anspruchsvollen Umfeld zu beschaffen und sie leistungsfähig integrieren zu können. Das gilt auch für die Rollen des CIO und CTO, für die ein passender Modus Operandi definiert werden muss.

IT-Experten sind gefragt – welche Anforderungen stellt das SDV an den HR-Bereich?

Brun: Für die Software-Entwicklung mit Containern, Microservices oder Continous Delivery müssen Organisationen auf einen breiteren Talent-Pool zugreifen und sich anpassen. Hier kommt es darauf an, die Ideallinie zwischen internen und externen Leistungen zu finden. Aber auf diesem Weg kommen auch neue Ideen und Innovationen in eine Organisation hinein, wodurch ihre Zukunftsfähigkeit steigt. Dies gilt besonders für Kooperationen in IT und Engineering, bei denen die Partner ihre Stärken einbringen und Defizite ausgleichen. Zudem hat Softwareentwicklung einen anderen Takt als die traditionellen Bänder: Apple und Google werden ihr Innovationstempo nicht drosseln, weil ein OEM zu langsam ist. Dies zwingt alle Beteiligten zu einer hohen Geschwindigkeit und in der Tendenz hin zu agilen Methoden sowie einer industriellen Softwareentwicklung.

Die Cloud ist ein zentraler Grundpfeiler des Software-Defined Vehicles. Wie sind die Unternehmen diesbezüglich aufgestellt?

Brun: Der Softwareanteil in einem Auto wird in den kommenden Jahren weiter steigen, damit etabliert sich die Cloud zu einem festen Bestandteil der Automotive-Welt. Unser neues Partnersystem umfasst die Komponenten Connectivity, Cloud und Code, damit ist der Rahmen gesteckt. Cloud-Engineering statt herkömmlicher Hardwareentwicklung wird es OEMs und Zulieferern ermöglichen, neue Funktionen mit größerer Flexibilität und Geschwindigkeit zu entwickeln. Zudem können Wertschöpfungspartner auf Basis der Cloud innovative Services und damit neue Einnahmequellen erschließen. Und es werden sich Fahrzeuge in Echtzeit mit ihrer Umwelt vernetzen können, um beispielsweise durch Maschinelles Lernen autonome Entscheidungen zu treffen. Bei den Unternehmen der Fertigungsindustrie in Deutschland ist das Thema bereits angekommen, laut Studien von Wipro FullStride Cloud Services liegt die Branche in Deutschland an der Spitze der Cloud-Nutzung. Insofern bin ich zuversichtlich, dass die hiesigen Automotive-Unternehmen ihre guten Positionen im Markt auch 2030 innehaben werden.

Über den Interviewpartner:
Yves-Antoine Brun ist seit 2021 Vice President & und Sector Head Europe bei Wipro Engineering, einem führenden Unternehmen für Technologiedienstleistungen und Beratung, das sich auf die Entwicklung innovativer Lösungen für die komplexen Anforderungen der digitalen Transformation konzentriert. Zuvor war Brun als Geschäftsführer des deutschen Zweigs der Alten Gruppe tätig, einem Entwicklungs- und Projektdienstleister mit Hauptsitz in Frankreich.
Mehr Informationen zu Wipro finden sie auf: www.wipro.com/de