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Von vermeintlichen Nachteilen zu unverzichtbaren Stärken

In einer Welt, die von technischen Fähigkeiten dominiert wird, etablieren sich Frauen als wichtige Talente und bringen mit ihren einzigartigen Fähigkeiten in Kommunikation, Empathie und Leadership frische Perspektiven in den MINT-Sektor. Flurina Baumann, Head Data & Digital Experience bei Emmi Schweiz, ermutigt Frauen, vermeintliche Nachteile als Stärken zu nutzen um die Branche aktiv mitzugestalten und teilt ihre Vision, wie diese Frauen durch die Führungskräfte und die Gesellschaft besser gefördert werden können.

Wie beurteilst Du die Rolle der Frauen in MINT-Berufen im DACH Raum, insbesondere im Technologiesektor?

In der MINT-Welt des DACH-Raums sehe ich Frauen als Innovationsmotoren und als Trägerinnen des kulturellen Wandels. Ihre Präsenz ist nicht nur ein Gewinn für die Teamdynamik, sondern auch ein strategischer Vorteil, der neue Perspektiven und Fähigkeiten einbringt. Frauen besitzen oft ausgeprägte Kommunikationsfähigkeiten, Vermittlungsgeschick und Empathie. Diese Faktoren sind gerade in IT-Projekten ein Gamechanger. Leider besteht über die IT immer noch die Fehleinschätzung, alle Mitarbeitenden bräuchten ausgeprägte technische Fähigkeiten. Zugegeben, früher habe ich mir einen Job in der IT nicht zugetraut. Mittlerweile habe ich erkannt, dass genau meine Fähigkeiten gefragt sind – insbesondere im Bereich des Projektmanagements, IT-Managements und im Leadership. Es ist ein Trugschluss zu glauben, dass jede Person in der IT ein Informatik- und Mathematik-Genie sein muss. Wir müssen diese Fehlwahrnehmung aktiv korrigieren, um Frauen zu ermutigen, ihren Platz in der IT zu beanspruchen.

Was wird auf Schul- und Ausbildungsebene gut gemacht, und bei welchen Initiativen gibt es Ihrer Meinung nach noch viel zu tun?

Bildung ist der Grundstein, auf dem spätere Karrieren aufgebaut werden. Es freut mich zu sehen, dass sich Schulen der fehlenden Diversität bewusst werden und diese aktiv anzugehen versuchen. Allerdings wird den Mädchen gemäss vieler Studien von klein an weniger zugetraut, besonders im MINT-Bereich. Das ist nicht nur bedauerlich, sondern auch kontraproduktiv, denn so gehen uns potenzielle Talente verloren. In der Schweiz haben wir in der Berufslehre, einem wichtigen Ausbildungszweig, lange Zeit nur rein technische IT-Profile angeboten. Das ändert sich nun allmählich. Damit hoffentlich auch das Bewusstsein, dass IT mehr ist als das, was sich die meisten Menschen darunter vorstellen. Wir sind auf einem guten Weg, aber es ist wichtig, den Mädchen bereits in der Grundbildung mehr Selbstvertrauen und mehr Identifikation mit den Themenbereichen mitzugeben.

Welche Berufsbilder haben deiner Meinung nach das größte Potenzial und/oder die meisten Chancen für Frauen?

Frauen können alles, was Männer auch können. Ich bin der Überzeugung, dass Frauen in der IT-Branche zusätzlich überall dort besonders glänzen können, wo ihre sozialen und organisatorischen Kompetenzen gefragt sind. Frauen fehlt es nicht an Fähigkeiten, sondern oftmals an der Erkenntnis, dass genau diese Fähigkeiten in bestimmten IT-Bereichen besonders wertvoll sind. Als nicht technische IT-Leitung versuche ich, ein Vorbild zu sein und zu zeigen, dass man auch ohne technische Voraussetzungen eine erfolgreiche Karriere in der IT haben kann. Es ist mein Ziel, ein Bewusstsein für die Vielfalt der Rollen in der IT zu schaffen und Frauen zu ermutigen, sich in diesen Bereichen zu engagieren und zu beweisen. Wenn wir das schaffen, wird unser Pool an Kandidat:innen im Bereich IT grösser und wir können dem Fachkräftemangel etwas entgegen wirken.

Wie haben Sie das letzte Jahr erlebt, hat sich der Abstand verringert oder ist die Situation ähnlich?

Mein Gefühl sagt mir, dass wir in diesem Bereich Fortschritte gemacht haben. In meinen IT-Teams arbeiten fast 50% Frauen, was vor 10 Jahren wohl eher unüblich war. Ich muss jedoch zugeben, dass dies nicht aufgrund gezielter Förderung erreicht wurde. Möglicherweise hat es damit zu tun, dass das Umfeld stimmt und eine kritische Masse bereits erreicht ist.  Bei den letzten Rekrutierungen hat mich trotzdem wieder erstaunt, wie sehr der Pool an Kandidat:innen für IT-Positionen nach wie vor männlich dominiert ist. Hier müssen wir aktiv ansetzen,  in dem wir uns Gedanken machen, wie wir Frauen für unsere Stelleninserate begeistern können.

Sind Sie der Meinung, dass die notwendigen Maßnahmen ergriffen werden, um diese Kluft zu verringern? Was sollte Ihrer Meinung getan werden, um dies zu erreichen?

Die Schliessung der Geschlechterkluft in der IT erfordert entschiedenes Handeln. Es beginnt mit dem Bewusstsein, dass wir als Führungspersonen respektive als Unternehmen unsere Rekrutierungspraktiken und Unternehmenskulturen hinterfragen müssen. Ich persönlich habe die Erfahrung gemacht, dass eine kritische Reflexion und das Setzen von Zielen zu einer starken Verbesserung führen. Bei meiner letzten Rekrutierungsrunde war es mir wichtig, Frauen auf der Kandidatenliste zu sehen. Daher habe ich mich in meinem Netzwerk aktiv erkundigt, was mögliche Gründe für eine Nicht-Einreichung von Dossiers der Frauen sein könnten. Darauf habe ich entsprechende Anpassungen vorgenommen. Wenn Teams sehr homogen sind, wird es schwierig eine kritische Masse an Vielfalt zu erreichen. Die Erreichung der kritischen Masse muss vielleicht stärker und aktiver getrieben werden. Danach wird es vermutlich einfacher.

Gesamtgesellschaftlich müssen wir darauf hinarbeiten, dass Equal Pay und Chancengleichheit nicht nur Konzepte bleiben, sondern gelebte Realität werden. Frauen reduzieren heute in der Schweiz bei der Familiengründung  immer noch sehr viel öfters das Arbeitspensum. Zum Teil dramatisch. Das führt erstens dazu, dass es gemäss Frauen in meinem beruflichen Netzwerk leider immer wieder passiert, dass Frauen um die 30 Jahre bei einer Beförderung oder Einstellung für einen Top-Job eher nicht gesetzt werden, da sie ja bald Kinder bekommen und reduzieren könnten. Das wiederum führt zu einem Karriereknick und demotiviert diese Talente. Wenn dann die Familienplanung tatsächlich ansteht, haben die Frauen oftmals die schlechteren Jobs und die tieferer Bezahlung. Daher lohnt es sich bei hetero Elternpaaren eher, wenn die Frau ihr Pensum reduziert und der Mann weiterhin voll arbeitet. Das führt dann erst recht zu einem Karriereknick bei der Frau. Dieser Teufelskreis müsste durchbrochen werden. Ich rate jeder Führungskraft darauf zu achten und die eigene Voreingenommenheit bei der nächsten Rekrutieren aktiv zu hinterfragen.

Welche Erfahrungen hast du selbst gemacht, und hast du dich jemals von deinen Kollegen im Stich gelassen gefühlt, weil du eine Frau bist?

Das ist schwierig zu beurteilen, da ich nicht weiss was die Gründe für ein bestimmtes Handeln einer anderen Person ist. Ich bin mir sehr wohl bewusst, dass es immer noch ein Ungleichgewicht gibt, jedoch habe ich das persönlich eher selten erlebt. Ich versuche stets einen potenziellen “Nachteil” zu meinem “Vorteil” zu machen. In der IT gehör(t)e ich zu einer Minderheit. Ich bin eine Frau und meine wichtigsten Fähigkeiten sind die Kommunikation, die schnelle Auffassungsgabe und die unternehmerische Denkweise. Das sind vermutlich nicht die üblichsten Kernkompetenzen einer klassischen IT-Person. Dieses Alleinstellungsmerkmal, kombiniert mit meinem leidenschaftlichen Engagement, konnte ich mir zu nutzen machen und herausstechen. Ich rate allen Frauen genau das zu tun und sich optimal zu positionieren.

Flurina Baumann

ist Head Data & Digital Experience bei Emmi Schweiz.

Hedy Goge

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