Heinz Paul Bonn nimmt sich heute das Phänomen Amazon vor, bei dem Bezos so ziemlich alles richtig gemacht zu haben scheint. Allerdings ist Amazon noch längst nicht da, wo es gerne hin möchte. Lieferung per Drohne ist da nur ein kleines Puzzleteilchen.
Warum heißt Amazon eigentlich Amazon? Während die einen spekulieren, dass es sich um ein Mantelwort aus “amazing online” handeln könnte, sehen andere eher im größten Fluss der Erde, der sich aus zahllosen Quellen speist und das Wasser schließlich in einem mächtigen Strom bündelt, die wahre Metapher für den Online-Versandhändler. Die Metapher zumindest illustriert ganz gut den Integrationsansatz, den Amazon-Gründer Jeff Bezos offensichtlich schon im Kopf hatte, als er “nur” einen Buchversand gründete. Der Wirtschaftswissenschaftler Bezos entwickelte sein Unternehmen und seinen Markt lehrbuchgerecht kreuzweise – erst horizontal, dann vertikal.
Denn nach der horizontalen Integration – also der Bündelung einer Vielzahl von gewerblichen Anbietern auf einer Angebotsplattform – erfolgte die vertikale Integration entlang der Distributionsschiene. Beide Expansionslinien werden seitdem konsequent ausgebaut: Horizontal durch die Hereinnahme von so ziemlich allem, was sich in einen Internet-Verkaufskatalog pressen lässt; vertikal durch die totale Beherrschung des Distributionswegs und des Kundenbeziehungsmanagements.
Und damit sind wir auch schon mittendrin im Imageproblem, mit dem Amazon seit Jahren zu kämpfen hat. Bei einem Markenartikler ist es die Produkterfahrung, die das Image des Herstellers prägt. Ist die Qualität gut, wird es auch der Hersteller sein. Apple ist das beste Beispiel dafür, dass Perzeption immer noch mächtiger ist als die Realität. Amazon aber wird über die Tugenden eines Logistikers bewertet, nicht über die gelieferte Ware. Pünktlichkeit, Fehlerfreiheit, Flexibilität, Kundennähe – das sind die Kriterien, über die Amazon bewertet wird. Und diese Eigenschaften haben auch ein Gesicht. Es ist das des eiligen Kollegen, der das Paket an der Haustür abgibt. Bislang trug der aber immer die Trikots von Hermes, DHL oder FedEx. Also: Wenn es gut läuft, war es der Carrier; wenn es schlecht ging, war es Amazon. Das ist das Mantra der Kontraktlogistik.
Da kann es wirklich nicht überraschen, dass Amazon immer stärker in die Digitalisierung der Geschäftsprozesse investierte, um Distribution unabhängig von Transportwegen und Zustelldiensten aufzubauen. Angefangen vom Produkt (Audio, Video, EBooks) über den Distributionsweg (on Demand, Download oder Cloud Services) bis zur Kundenbindung (Social Media, Crowd, Big Data) hat Amazon den eCommerce neu durchdekliniert. Mit Erfolg.
Es kann aber auch nicht überraschen, dass Amazon in seinem letzten Quartalsbericht bei Frachtkosten einen Anstieg um 31 Prozent ausweist und damit deutlich macht, wie sehr die vertikale Integration bis zur letzten Meile im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Denn der happige Frachtkosten-Posten ist keineswegs nur Spiegelbild der Preisentwicklung auf der letzten Meile. Es ist auch ein Anzeichen dafür, dass Amazon mit aller Kraft die nächste Runde der vertikalen Integration bis zur Haustür des Kunden einläutet. Mit Amazon Fresh, dem Frischdienst für Lebensmittel, läuft bereits der erste Service, der auf externe Logistikdienstleister verzichtet und Ware direkt aus den grünen Lieferwagen mit dem Amazon-Smiley (oder dem Pfeil von A nach Z) vor die Tür stellt. Und in SF, LA und NY kommen in diesen Tagen auch klassische Amazon-Pakete über Amazon-Dienste an den Kunden.
Und die Branche tut, als wäre sie überrascht! Dabei ist nichts ist naheliegender, als dass Amazon weiter an der kreuzweisen Eroberung seines Marktes arbeitet.
Horizontal werden weitere Produkte ins Programm genommen. Längst ist Amazon auch die Verkaufsplattform für private Anbieter, die damit neben der Auktionsplattform eBay einen weiteren Vertriebskanal für den Ramsch vom Dachboden haben. Längst sind mit Amazon Web Services auch Infrastrukturangebote im Internet vorhanden. Man kann inzwischen Wetten darauf abschließen, wann Amazon auch Dienstleistungen ins Programm nimmt. Es wird deutlich: Amazon sucht jene Produkte, die kein zusätzliches logistisches Kopfzerbrechen bereiten.
Und gleichzeitig bosselt Amazon an der Optimierung der logistischen Prozesse. Medienwirksam wird da die Idee der Auslieferung per Drohne ins Spiel gebracht. Rechtswirksam wird da schon mal das Patent auf “Auslieferung vor Bestellung” reklamiert. Praktisch wirksam sind da Angebote wie “Prime Pantry”, bei denen Kunden solange zukaufen, bis das normierte Paket voll ist. Retourenwirksam ist der Aufbau von Packstationen, an denen Kunden die nicht gewünschte Ware zurückgeben können.
Und da wird es evident, dass Amazon mit einer eigenen Flotte für die letzte Meile nicht nur aus dem Preisdiktat der Carrier ausbrechen will. Es baut zugleich auch eine Flotte auf, die a) gestrandete Drohnen und b) abgelegte Retouren aus den Packstationen zurückholt. Noch “vertikaler integrierter” geht kaum noch. Und tatsächlich: Hier klingelt bare Münze. 40 Prozent der Frachtkosten sind für Aufwände, die eigentlich vermeidbar wären – Fehlfahrten, Lehrfahrten, Rückrufe. Amazon geht das Problem jetzt an – kreuzweise.