Eine Lanze für Beschäftigungsformen jenseits der Festanstellung bricht heute Nikolaus Reuter, Gründer und Vorstandsvorsitzender der Etengo AG. Für immer mehr Unternehmen werde es wichtig, kurzfristig Zugriff auf externes Wissen zu bekommen.
Manche Dinge gefallen uns nicht oder machen uns Angst. Nehmen wir zum Beispiel den Trend zu sogenannten atypischen Beschäftigungsverhältnissen wie Freelancing oder Personalüberlassung. Für viele ist dieses Thema von vorneherein ein rotes Tuch und in der Schublade “Schreckgespenst” eingeordnet – und die soll am besten fest zu bleiben.
Ich sage: Lassen Sie uns mal genauer hinschauen, damit die viel beschworenen Risiken richtig eingeordnet und die leider weniger intensiv diskutierten Chancen auch ins Blickfeld kommen. Und dann können wir uns gerne kritisch und konstruktiv mit diesem Trend auseinandersetzen. Ich freue mich auf die Diskussion mit den Lesern dieses Blogs auf silicon.de.
Weniger Festanstellungen
Zuerst die Fakten: Die Modelle der Erwerbsarbeit befindet sich mitten in einem radikalen Wandel. In den vergangenen Jahrzehnten war der Arbeitsmarkt in Deutschland geprägt und dominiert von langfristig orientierten Anstellungsverhältnissen. Dies ändert sich bereits seit geraumer Zeit – eine Entwicklung, die laut dem Trendforscher und Autor Sven Gábor Jánszky auch weitergehen wird: Bis zum Jahr 2020 werden demnach nur noch 30 bis 40 Prozent aller Erwerbstätigen in einem traditionellen Arbeitsverhältnis – Festanstellung in einem Unternehmen – stehen. Dagegen wird sich der Anteil der (Solo-)Selbständigen in etwa verdoppeln und 2025 bereits rund 20 Prozent aller Erwerbstätigen ausmachen. Daneben wird es auch mehr Menschen geben, die zumindest zeitweise über Personaldienstleister in zeitlich befristeten Projekten tätig sein werden. Der Anteil dieser Arbeitnehmer wird Jánszky zufolge bis zum Jahr 2025 auf bis zu 40 Prozent steigen. Die IT-Branche, die seit jeher Beschäftigungstrends vorwegnimmt, ist auch bei dieser Entwicklung Vorreiter: Nach den Ergebnissen einer Etengo-Studie aus dem Jahr 2012 sind bereits heute bis zu 20 Prozent aller deutschen IT-ler als Freelancer tätig. Mittlerweile dürften es schon wieder mehr sein.
“Mehr Menschen in atypischen Beschäftigungsverhältnissen? Nein danke!” Das ist die intuitive Reaktion vieler Menschen. Denn zumeist haben sie dabei unterbezahlte und ausgebeutete Menschen in einfachen Tätigkeiten vor Augen, wie wir sie aus zahlreichen kritischen Fernsehreportagen kennen. Ich stelle überhaupt nicht in Abrede, dass es dieses Phänomen gibt und ich bin auch der festen Meinung, dass es bekämpft werden muss. Aber das darf nicht dazu führen, dass man diesen Wirklichkeitsausschnitt mit der Wirklichkeit verwechselt – sonst entsteht ein Zerrbild. Um den aktuellen Trend richtig einschätzen zu können, muss man den Blick weiten. Denn Tatsache ist auch: Viele Menschen, die in zeitlich befristeten Projekten arbeiten und zum Beispiel als IT-Freelancer an die Unternehmen vermittelt werden, haben diese Art der Erwerbstätigkeit frei gewählt. Und sie fühlen sich damit wohl und haben dauerhaft ein gutes und häufig auch sehr gutes Einkommen.
Vollbeschäftigung dank Fachkräftemangel
Es ist also keine Not, die diese Experten in die Projektarbeit treibt – schließlich hat der Fachkräftemangel längst dazu geführt, dass wir es in der Informationstechnologie und im Ingenieurswesen mit einen klaren Arbeitnehmermarkt zu tun haben, was sich auch in den Verdiensten zeigt. IT- und Engineering-Experten mit akademischer Ausbildung können also für absehbare Zeit mit gut bezahlter Beschäftigung rechnen. Und vollbeschäftigt sind die Projektarbeiter auch – aber eben nicht in klassischer Festanstellung, sondern freiberuflich oder als Spezialisten in der Personalüberlassung. Ihre Motive können ganz unterschiedlich sein: der Wunsch nach mehr Flexibilität, die Suche nach herausfordernden Aufgaben, die bessere Vereinbarkeit von Beruf mit Familie oder Hobbys oder die bessere Bezahlung im Vergleich zu einer Festanstellung. IT-Freelancer beispielsweise sind in ihrem Fach oft hochspezialisiert und verfügen darüber hinaus über wertvolle Branchenkenntnisse. Damit sind sie für Unternehmen, die temporär diese Expertise benötigen, um schnell und flexibel auf Marktveränderungen zu reagieren, wertvolle Wissensarbeiter – und erwirtschaften als Freelancer Stundensätze von 50 bis zu 150 Euro.
Ignoriert und schlecht geredet
Die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes ist eine Tatsache, die man nicht einfach ignorieren oder – wie es manche Politiker, Gewerkschaften und Medien tun – pauschal aburteilen darf. Denn sie sorgt dafür, dass die Unternehmen flexibel genug auf Marktanforderungen reagieren können und an die notwendige Expertise kommen – was uns als Volkswirtschaft innovativ und stark macht. Davon profitieren wir alle.
Dem Einzelnen hochqualifizierten Wissensarbeiter bietet diese Entwicklung daneben die Chance zu einem selbstbestimmten und erfüllten Arbeitsleben. “Aber nicht jedem”, höre ich die Einwände. Das stimmt natürlich. Doch niemand will die klassische Festanstellung mit ihren eigenen Vorzügen wie Sicherheit, Kontinuität und Know-how-Sicherung komplett abschaffen. Es geht um ein Zusammenspiel unterschiedlicher Formen, die zusammen die Bedürfnisse von Wissensarbeitern und Unternehmen besser befriedigen können, als eine Monokultur der Festanstellung. Davon abgesehen: Feste, langfristig angelegte Strukturen haben noch nie jeden einzelnen Arbeitswilligen oder Arbeitsfähigen aufnehmen oder vollkommene Glückseligkeit bescheren können.
Unabhängig von der Ausgestaltung des Arbeitsmarktes geht es für den Einzelnen immer darum, sich einen Platz im Gefüge zu suchen, der einerseits den Marktanforderungen gerecht wird und andererseits persönliche Bedürfnisse befriedigt – sei dies Sicherheit, ein bestimmtes Einkommen, ein bestimmtes Maß an Freizeit oder ethische und fachliche Ansprüche. Eine Patchwork-Biografie, wie sie viele freiberufliche Wissens- und Projektarbeiter bereits heute haben, steht dabei nicht automatisch im Widerspruch zu persönlichen, familiären und monetären Zielen. Aber natürlich müssen die Arbeitnehmer sich auf die wandelnden Bedingungen einstellen, also zum Beispiel die im Markt gefragten Qualifikationen erwerben, Stichwort lebenslanges Lernen – aber das gilt auch für die Festanstellung. Denn ein Unternehmen, das mangels adäquat qualifizierter Mitarbeiter scheitert, bietet logischerweise auch keine Sicherheit. Realistisch betrachtet ist die Entwicklung hin zu mehr atypischen Beschäftigungsverhältnissen im Bereich der Hochqualifizierten kein Schreckgespenst mehr, sondern eine echte Chance für den Einzelnen und die Unternehmen.
Wobei ich mich als Freiberufler allerdings schon frage, was es noch mit Selbständigkeit zu tun hat, wenn jemand seine Aufträge vermittelt bekommt, jeden Morgen über Monate oder gar Jahre in die Firma dackelt, dort seine Anweisungen vom “Chef” erhält und auch sonst fest in die Unternehmensstruktur eingebunden wird und eigentlich keinem anderen Auftraggeber zur Verfügung steht. Das klingt mir doch sehr nach Arbeitnehmer, nur dass der eine Sozialabgaben abführen muss und der andere nicht. Gerecht ist das nicht. Als Alternative würden sich auch befristete sozialversicherungspflichtige Anstellungen anbieten, mit allen Rechten und Pflichten.
Hr. Reuter schreibt: Viele Menschen, die in zeitlich befristeten Projekten arbeiten und zum Beispiel als IT-Freelancer an die Unternehmen vermittelt werden, haben diese Art der Erwerbstätigkeit frei gewählt. Und sie fühlen sich damit wohl und haben dauerhaft ein gutes und häufig auch sehr gutes Einkommen. –> Fragen : Wieviele sind dies, bezogen auf den gesamten “IT Arbeitsmarkt”? Wieviele haben’s probiert und haben es nicht geschafft? Wieviele hatten / haben keine andere Wahl, weil sie im Verlauf von Restrukturierungsmaßnahmen oder aus anderen Gründen abgebaut wurden. (Stichwort 45+)? Wie groß ist die Zahl jener, welche Raubbau an ihrer Gesundheit betreiben müssen ? Wie hoch ist die Auslastung der “atypisch” Beschäftigten. Insbesondere die Auslastung der Freiberufler. Haben sie in die von Ihnen genannten Stundensätze den Aufwand für “Verwaltung” und Auftragsaquisition abgezogen?
Sie versuchen die Positiva hervorzuheben und verstehen es, sich nicht mit den negativen Seiten dieser Entwicklung auseinander zu setzen.
Mein Befund zur , wie Sie es darstellen, unausweichlichen Entwicklung: Diese Entwicklung wird vor allem von jenen Unternehmen gesteuert, die Wissen haben wollen, jedoch nicht mehr bereit sind in die Bildung und Schulung ihrer MitarbeiterInnen zu investieren, Unternehmen, welche sich der Fürsorgepflicht als Arbeitgeber entledigen wollen, Unternehmen, die ihr unternehmerisches Risiko zu Lasten der A-Typisch Beschäftigten reduzieren (wollen)und somit ihre Profitabilität steigern wollen.
P.S.: Auch ich bestreite nicht, dass es Personen gibt, welche diese Form der Beschäftigung aus freien Stücken wählen und auch positiv erleben. Den von Ihnen beschriebenen Trend kann ich in diesem Zusammenhang nur in geringer Ausprägung erkennen. — Lasse mich gerne durch “Hard Facts” eines Besseren belehren.